Rezension über:

Marcel M. van der Linden / Magaly Rodríguez García (eds.): On Coerced Labor. Work and Compulsion after Chattel Slavery (= Studies in Global Social History; Vol. 25), Leiden / Boston: Brill 2016, XIII + 373 S., ISBN 978-90-04-31637-9, EUR 138,00
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Rezension von:
Michael Zeuske
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Michael Zeuske: Rezension von: Marcel M. van der Linden / Magaly Rodríguez García (eds.): On Coerced Labor. Work and Compulsion after Chattel Slavery, Leiden / Boston: Brill 2016, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/11/35244.html


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Marcel M. van der Linden / Magaly Rodríguez García (eds.): On Coerced Labor

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Der Sammelband ist aus der 50. Jahreskonferenz der International Conference of Labour and Social History (2014) zum Thema "Work and Compulsion: Coerced Labour in Domestic Service, Agricultural, Factory and Sex Work, ca. 1850-2000s" hervorgegangen.

Das Buch besteht aus drei Teilen. Erstens: "Coerced Labour in International and National Law" (11-70; Beiträge von Magaly Rodríguez (Gesetze und Zwangsarbeit), Nicole Stiller ("Moderne" Sklaverei), Christine Molfenter (Zwangsarbeit und Institutionen in Indien));

Zweitens: "Convict and Military Labor", 73-184; Beiträge von Kelvin Santiago-Valles (Zwangsarbeit in kolonialen Straf-Institutionen des US- sowie des Spanischen, Französischen und Britischen Atlantiks), Christian G. De Vito (Strafgefangenenarbeit in den südlichen Grenzländern Lateiamerikas), Justin F. Jackson (US-Army und Zwangsarbeit an Straßen der Philippinen), David Palmer (Zwangsarbeit von Ausländern in Mitsubishi-Werften);

Drittens: "Agricultural and Industrial Labor", 187-290; Beiträge von Sven Van Melkebene (Zwangsarbeit und Agency in den Kaffee-Plantagen-Ökonomie von Kivu (Ost-Kongo)). Nicola Pizzolato (Unfreie Arbeit während des new deal in den USA), Luis F.B. Plasencia (Zwang in der Kontraktarbeit von jamaikanischen und mexikanischen Arbeiter in den USA und in Kanada), Lisa Carstensen ("Moderne" Sklavenarbeit in Brasilien); "In Lieu of a Conclusion" (Marcel van der Linden, 293-322); "Bibliography" (323-368); "Index" (Orte, Personen und Sachen, 369-373). Wer es aus der Lektüre der Beiträge noch nicht wusste, weiß es spätestens bei Bibliografie und Index - das Buch ist etwas für Fachleute (Frauen wie Männer).

Magaly Rodríguez klärt in ihrem conceptual essay eine Reihe von wichtigen Begriffen und Konzepten in Rechtsdiskursen, die sich global mit Sklaverei und Zwangsarbeit befassen, u.a. auch mit dem Begriff "Ausbeutung". Sie verwahrt sich gegen die Tendenz "to blur the concept of slavery" (3). Das ist sehr berechtigt. Der Rezensent kann nur darauf verweisen zwischen "Sklaverei auf dem Papier" (und in Diskursen zum Beispiel von NGOs, Coca Cola, Rechtsdiskursen, der britischen Regierung und dem US-Präsidenten) und realen historischen Sklavereien oder besser, Formen und Praktiken des enslavements (slaving) sowie Sklavenarbeit heute zu unterscheiden. Nicole Siller kritisiert ebenfalls die Diskurse der "modernen" Sklaverei, die ihrer Meinung nach vor allem von NGO's als "labelling rhetoric"; als sehr vager Term würde er vor allem "kosmetisch" verwandt. Das ist zweifelsfrei auch richtig, erfasst aber das Problem heutigen slavings in der Realität nicht. Christine Molfenter analysiert in ihrem sehr interessanten Essay die Kampagne (1976 - man muss sicher sagen, eine der Kampagnen im 20. und 21. Jahrhundert) zur Abolition von bonded labour in Indien (als ein nationales Exempel - obwohl ja Indien eher ein Kontinent für sich selbst ist); sie untersucht Schichten von Regeln und Gesetzen sowie Gruppen von Akteuren.

In der folgenden Sektion von vier Artikeln zeigt zuerst Kevin Santiago-Valles, dass es einen großen Unterschied machte, verurteilter Strafgefangener an der Peripherie der großen Imperien (USA, Spanien, Frankreich und Großbritannien) zu sein oder Strafgefangener in ihren Zentren. An den Peripherien waren convicts gezwungen, die schlimmsten / härtesten Arbeit unter schlechtesten Bedingungen zu machen, in den core regions der Imperien nicht in diesem Maße. Sehr beachtenswert: Die regionale Analyse der Lage von convicts des spanischen Imperiums auf Puerto Rico.

In Bezug auf die globalhistorische Bedeutung (und Größe) der sozialen Gruppen, die analysiert werden sollen, hilft die quantitative Forschung sehr. Nimmt man das Beispiel der Amerikas: rund 1,15 Mio indentured workers sowie 149.000 convicts, die von 1492 bis 1880 in die Amerikas zwangsmigrierten (siehe: Eltis, David, Coerced and Free Migration: Global Perspectives, Stanford: Stanford University Press, 2002, 67 (Table 2). Dazu kommen ca. 11 Millionen lebend in den Amerikas zwangsmigrierten Menschen aus Afrika sowie 2,5 - 5 Millionen (Schätzung) quasi-versklavten Indigenen (Andrés Reséndez); die Zahlen der Razzienopfer sowie Versklavten indigener Gruppen sind nicht bekannt.

Christian de Vito fragt in seinem Essay nach Orten im spanischen Südamerika, an denen convict labor dominierte. Er interessiert sich für die Gründe. Seine Untersuchung konzentriert sich auf drei Orte, die strategisch für den Schutz der Küsten des Südkegels waren und der Hauptschifffahrts- und Handelsrouten waren (siehe Karte, 101). Presidios (Festungen mit convicts und anderen Zwangsarbeitern) sowie Missionen (ebenfalls mit massiven Zwangsarbeiten) waren in der Frontier-Strategie iberischer Imperien überall dort sehr wichtig, wo sie wegen Widerstand, Fehlen von freien Siedlern, schwierigem Gelände sowie militärischen Misserfolgen gegen Indigene (wie besonders im Norden Neu-Spaniens/ Mexikos) keine direkten Eroberungen betreiben konnten.

Justin Jacksons Essay hat Zwangsarbeiten in einem anderen Imperium, dem der USA nach 1898, zum Gegenstand. Jackson untersucht den Arbeitszwang für Bauern (die ihren Kleinbesitz bearbeiten wollten) auf Cuba, Puerto Rico und den Philippinen. Anhand der Zwangsarbeit, die auf den Philippinen polo genannt wurde zeigt der Autor, dass die Unterscheidung zwischen "free labor" und "unfree labor" unter Bedingungen des liberal-expansiven Kapitalismus eine "false dichotomy" ist - beyond slavery and freedom halt.

David Palmer zeigt am Beispiel der Mitsubishi Heavy Industries während des Zweiten Weltkriegs in Nagasaki und Hiroshima, wie koreanische Zwangsarbeiter in ein "multi-tiered labor system" eingegliedert wurden, zusammen etwa mit "freien" japanischen Arbeitskräften. Das beweist am konkreten Beispiel "how capitalism can confortably co-exist with forced labor and slavery".

Im dritten Teil des Buches analysiert Sven Van Melkebene Arbeitsbeziehungen auf Kaffeeplantagen im Ost-Kongo (Kabara-Region) zwischen 1920 und 1940. Das labor system der Plantagen bestand aus einer Minorität von Männern, die im Grunde fest angestellt waren, más o menos. Dazu kamen, wenn man so will, Zeitarbeiterinnen (Frauen, Kinder, aber auch einige Männer), die vom Kolonialstaat und / oder lokalen chiefs zur Arbeit gezwungen wurden, indem jede andere Art von Einkommen verhindert wurde. Nicola Pizzolato beleuchtet ein sehr interessantes Thema: Zwangsarbeiten zur Zeit des New Deal in den USA, wo vor allem African Americans in chaingangs und im convict lease gezwungen wurden "compulsory work to pay a debt" zu machen. Die Zwangsarbeiter wurden vor allem intensiv eingesetzt, um die Kosten für große Infrastruktur- und Modernisierungsprojekte niedrig zu halten. Luis Plascencia untersucht contract labor regimes, die im 20. Jahrhundert in Kanada und in den USA speziell auf Migranten aus Zentralamerika, Mexiko und der Karibik angewandt wurden. Migranten und Migrantinnen wurden gezwungen, trotz extrem niedriger Einkommen und oft sehr schlechten Arbeitsbedingungen, bei ihren Kontrakt-Arbeitsgebern zu bleiben. Lisa Carstensen analysiert, wie seit den 1970ern das Konzept der "modernen Sklaverei" und der "Arbeit wie in der Sklaverei" in Netzwerken gegen Arbeitszwang in Brasilien entstanden und mit den Forderungen nach einem Ende des Zwanges für Zeitmigranten in Brasilien in der Landwirtschaft und in der Textilindustrie einhergingen.

In Summa erlaubt das Buch drei wichtige Konklusionen: Erstens, es wird deutlich, dass "Arbeitsgesetzgebung" im Gegensatz zu dem ordentlichen und legalen Klang des Begriffs in Realität "a fairly messy affair" ist. Seit den formalen Aufhebungen von Eigentumssklavereien im Westen (Amerikas und West- sowie Mittel-Europa) und dem imperialen Druck, das in anderen Weltregionen auch zu tun, ist die Tendenz deutlich, dass "clearly concepts are becoming more blurred" (wie etwa aus der Erfindung des Konzepts der "Zwangsarbeit" für eigentlich kollektive Massensklavereien in europäischen Kolonien um 1880 deutlich wird).

Zweitens: kapitalistische Wirtschaften sind mit extrem disparaten politischen Systemen und alle Formen ebenfalls sehr differenter Arbeitssysteme, eben und grade auch Zwangssysteme, kompatibel.

Drittens: Auch heute existieren Zwangsarbeit und Sklavereien (ob man sie als "modern" bezeichnet oder nicht) auch in allem kapitalistischen Ländern (inkl. China).

Marcel van der Linden zeigt in seinem systematischen Nachwort, wie unterschiedliche labor relations sozio-strukturell und (fast) naturwissenschaftlich sauber getrennt und nach den Modalitäten des "Eintritts" in diese Beziehungen und des "Austritts" aus ihnen bewertet werden können. Damit steht ein chronologisches framing und ein konzeptioneller Apparat zur Analyse globaler Arbeit unter Einschluss von coercion zur Verfügung.

Michael Zeuske