Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840-1940, Göttingen: Wallstein 2020, 456 S., 7 Farb., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3646-9, EUR 34,90
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Als Studie zu "Bürgertum revisited" könnte man im verschwurbelten Deutsch-Englisch zunächst einmal Peter-Paul Bänzigers Buch in größeren Passagen wahrnehmen. Obwohl der Autor von "Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840-1940" die unterbürgerlichen Schichten in seine Studie einbeziehen will, schränkt sein Quellenkorpus dieses Vorhaben von vorneherein ein. Er konzentriert sich hauptsächlich auf autobiografische Texte, meist Tagebücher. Da ist es fast schon zwangsläufig, dass nicht viele Schreiber und Schreiberinnen aus der Arbeiterschaft auftauchen. Der Bürgertums-Bias kommt aber nicht nur durch die Quellengattung zustande, sondern auch durch die Fragestellung nach "Richtlinien und Wertvorstellungen" mit Blick auf Arbeit und Konsum. Damit geraten Fragen nach dem "bürgerlichen Wertehimmel", dem Ende der "Bürgerlichkeit", aber auch die Debatten um die "Verbürgerlichung" der Arbeiterschaft (und Arbeiterbewegung) in den Blick (14f.).
Wesentlich erweitert wird allerdings dieser eher etablierte Forschungshorizont durch Bänzigers Ansatz, die beiden Sphären von Konsum und Arbeit aufeinander zu beziehen, da sie "komplementär sind" (11). In der Forschung dagegen seien Untersuchungen zur Arbeits- und Konsumgesellschaft eher getrennte Wege gegangen. Bänziger macht sich für seine Analyse einen an Andreas Reckwitz orientierten Subjektkultur-Ansatz zunutze. Damit lassen sich neben Diskursen bzw. den in den Tagebüchern sichtbar zu Tage tretenden Werten und Normen auch die Praktiken in den Blick nehmen. Außerdem könne das "Konzept der erlebnisorientierten Subjektkultur" nicht nur für den Bereich von Konsum, Freizeit und Vergnügen, sondern auch für die Sphäre von Arbeit und Produktion genutzt werden. Das ist äußerst reizvoll, hat - wie sich zeigt - auch seine Tücken.
Im ersten Kapitel geht Bänziger den Praktiken familiären Wirtschaftens nach. Eine klare Trennung von Arbeit und Freizeit konnte sich dabei noch nicht ausbilden. Bei einem Pfarrersehepaar beispielswiese wurde die seelsorgerische Arbeit mit der Arbeit im Garten verbunden, auch um sich zum schmalen Gehalt noch mit Obst und Gemüse selbst zu versorgen. Diese Familienarbeit war nicht Rückzugsort und Entspannung von der Erwerbsarbeit: Vielmehr wurden "weder [...] außerhäusliche Arbeiten als belastend beschrieben, noch wurde die Zeit zuhause im heutigen Sinn als Freizeit verstanden" (66).
Im zweiten Kapitel wird der bürgertumsgeschichtliche Fokus besonders deutlich. Hier rekonstruiert Bänziger "Leitvorstellungen", die sich im Ethos "allgemeiner Arbeitsamkeit" und der Mäßigung niederschlugen. "Das moderne Profitstreben und Leistungsdenken" ließe sich dagegen "bestenfalls in Ansätzen erkennen" (77).
Mit den im dritten Kapitel behandelten "Unterklassen" kommt nach Bänziger auch ein anderer Deutungsrahmen von Arbeit ins Spiel. Nicht bürgerliche Arbeitsamkeit diffundierte in einem trickle-down-Effekt, vielmehr entwickelte sich aus einem "am Produkt orientiere[n] Arbeitsethos" des Handwerks ein "Produktions- und Produktivitätsethos". Auch die männliche Arbeiterschaft war stolz auf die von ihr betätigten perfekten Maschinen und die massenhaft hergestellten Qualitätsprodukte (139). Über diese Vorstellungen entfaltete das Leistungsethos erst seine volle Wirkung. Es war dabei - so Bänziger in Anlehnung an Nina Verheyen - ein "'spezifisch modernes, aber eben nicht spezifisch bürgerliches' Identitätsangebot" (194). Wie sich in dieses äußerst überzeugend belegte Modell im gleichen Kapitel das "Ethos des liebenden Dienstes" eines schlesischen Dienstmädchens fügt, das in der englischen Oberklasse in Stellung ging, hat sich dem Rezensenten nicht voll erschlossen.
Überhaupt leidet dieses auf die Unterklassen fokussierte Kapitel daran, dass die Tagebuchschreiberinnen und -schreiber eher dem Kleinbürgertum des (selbständigen) Handwerks, der Handlungsreisenden und Dienstmädchen zugeordnet werden können. Die Arbeiterschaft der Fabriken fällt angesichts des Quellentypus weitgehend aus. Damit gerät aber auch der interpretatorische Rahmen ins Rutschen: Wer aus der Arbeiterschaft verschrieb sich dem "Produktions- und Produktivitätsethos"? Die frühen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen von Adolf Levenstein lassen zwar durchaus Stolz auf die eigene Arbeit erkennen, zeigen aber auch die Abneigung, die gegenüber der eigenen erledigten Arbeit bestand [1]. Ein "erlebnisorientierter" Umgang mit der Arbeit lässt sich sicherlich nur für einen kleinen Teil der Arbeiterschaft konstatieren.
Kapitel 4 weitet die Perspektive und blickt nun auf die arbeitsfreie Zeit und den Konsum sowie die Beziehungen zur Arbeitsgesellschaft. Gerade die Unterklassen gingen wesentlich unbefangener mit dem Zugang zu Unterhaltung und Freizeitvergnügen um als bürgerliche Kreise. Sie setzten ihre durch Reallohnsteigerungen gewonnene Kaufkraft etwa in Mode um, um sich innerhalb ihres Milieus Respektabilität zu verschaffen. Von daher, so Bänziger, sei auch nicht von einer Diffusion des "bürgerlichen Verhaltensskripts" in die Unterklassen auszugehen, sondern von einer "Ausdifferenzierung und Transformation" (203). Deshalb auch stimmten die Unterklassen nicht in das Großstadt-Lamento bürgerlicher Moderne-Kritik ein. Sie sahen sehr wohl die großstädtischen Reize.
Anschließend geht Bänziger dem Aspekt nach, dass nicht nur Freizeit und Konsum sich nach dem Erleben ausrichteten, sondern Erlebnisorientierung "auch die Wahrnehmung der Arbeit und des Arbeitsplatzes" prägten. Das stellte die Klammer einer in der Moderne "wirksam werdenden Leitdifferenz von Arbeit/Produktion und Freizeit/Konsumtion" dar (262). Doch die Erlebnisorientierung der Arbeitswelt aus den Tagebüchern einer Tänzerin und eines Banklehrlings abzuleiten, wirft erneut die Frage nach der Reichweite dieser Beobachtung auf - wie Bänziger selbst einräumt: Die Tänzerin "war zweifellos alles andere als eine typische Arbeiterin oder Angestellte" (292).
Wie sehr sich die Kategorie der "Erlebnisorientierung" letztlich aus dem Quellentypus ableitet, wird im abschließenden Kapitel deutlich. Diese Gattung wandelt sich immer mehr von einer biografisch-chronologischen Dokumentation zu einer Erlebnis-Berichterstattung, in der einer "Multimedialität" gefrönt wurde, indem die Schreibenden Eintrittskarten oder Erinnerungsstücke in die Tagebücher einklebten, um das Erlebte auch haptisch festzuhalten.
Bänzigers Buch ist sehr gut geschrieben und komponiert. Man taucht in die Lebenswelten der Tagebuchschreiberinnen und -schreiber ein, ist manchmal geradezu enttäuscht, dass dieses Leben nicht weiterverfolgt werden kann. Selbst gewisse "Downton Abbey"-Assoziationen mögen sich bei manchen einstellen, wenn eine Dienstbotin in ihrem Tagebuch über ihre englisch-aristokratische Herrschaft moralisch entsetzt feststellte, dass sich die (heimlichen) Liebschaften vor ihren Augen küssten. Kritisch anzumerken ist dagegen, dass durch die Zusammenstellung der Tagebuchnotizen gelegentlich der Aspekt des zeitlichen Wandels unterbelichtet bleibt. Wähnt man sich in manchen Analysen zu Tagebüchern in den 1850er Jahren, so ist man wenige Seiten späten bereits im frühen 20. Jahrhundert. Doch abgesehen von diesem Manko und der Frage nach der Bedeutung der Erlebnisorientierung für die Arbeiterschaft an ihren Arbeitsplätzen stellt das Buch von Bänziger eine wertvolle Bereicherung zu Forschungen von Konsum, Arbeit und Bürgertum dar.
Anmerkung:
[1] Siehe zusammenfassend Jürgen Schmidt: Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisationen, Frankfurt am Main / New York 2015, 119-124.
Jürgen Schmidt