Rezension über:

Dominika Bopp / Sascha Feuchert / Andrea Löw u.a. (Hgg.): Die Enzyklopädie des Gettos Lodz / Litzmannstadt, Göttingen: Wallstein 2020, 432 S., ISBN 978-3-8353-3592-9, EUR 34,00
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Rezension von:
Benedikt Faber
Gymnasium Augustinianum, Greven
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Benedikt Faber: Rezension von: Dominika Bopp / Sascha Feuchert / Andrea Löw u.a. (Hgg.): Die Enzyklopädie des Gettos Lodz / Litzmannstadt, Göttingen: Wallstein 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 2 [15.02.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/02/35285.html


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Dominika Bopp / Sascha Feuchert / Andrea Löw u.a. (Hgg.): Die Enzyklopädie des Gettos Lodz / Litzmannstadt

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Außerhalb der Mauern wüten die nationalsozialistischen Besatzungstruppen, innerhalb leiden auf vier Quadratkilometern 160.000 Menschen unter Hunger, Kälte und permanenter Todesangst - das Getto Lodz / Litzmannstadt wird vom dort inhaftierten Oskar Rosenfeld nüchtern als "Krepierwinkel Europas" [1] bezeichnet. Erscheint es in einem solchen Ausnahmezustand nicht abwegig, die geringen Freiräume so genannter jüdischer Selbstverwaltung für ein Archiv zu nutzen und die Geschehnisse vor Ort zu dokumentieren? [2] Und drei Jahre später, im Winter 1943, über diese Getto-Chronik hinaus gar mit der vorliegenden Enzyklopädie zu beginnen? Woher nahmen die Verantwortlichen Mut und Energie, sich darauf in dem Wissen einzulassen, dass eine Aufdeckung ihres Schaffens fatale Konsequenzen haben würde? Und worauf noch ist dieses beeindruckende Projekt zurückzuführen als auf die Leidenschaft für Sprache und deren Wandel, auf das Interesse an dieser eigenartigen Getto-Terminologie, die Rosenfeld als "belebende[n] Faktor in der Eintönigkeit des Daseins" (10) bezeichnet?

Es sind ein gutes Dutzend Schriftsteller und Journalisten, darunter eine Frau, die ab Dezember 1943 neben der ereignisgeschichtlichen Chronik eine sprachwissenschaftlich akzentuierte Textsorte entwickeln möchten, die Enzyklopädie. Einige ihrer Autoren sind namentlich nicht mehr zu ermitteln, von anderen weiß man nur wenig. [3] Hervorzuheben ist neben dem eingangs zitierten Literaturwissenschaftler Oskar Rosenfeld, dessen 1994 publizierte Tagebücher für Aufsehen gesorgt haben, Oskar Singer, Redakteur aus Prag und Leiter des Archivs seit Anfang 1943. Er setzte durch, dass deutschsprachige Beiträge die polnischsprachigen auf Dauer ablösten, in der Enzyklopädie stehen 228 Lemmata in deutscher Sprache 115 auf Polnisch und 34 auf Jiddisch gegenüber. Die Mehrsprachigkeit der Edition bildet das Nebeneinander der Sprachen innerhalb der Gettogemeinschaft sowie die wechselseitigen Bezüge eindrucksvoll ab. Singer und Rosenfeld eint die Freude am Erzählen und an der spielerischen Bewegung zwischen Realität und Fiktion. Sascha Feuchert spricht in diesem Zusammenhang von "literarischen Miniaturen" (354), die dem Sprachverständnis der beiden Männer erwachsen seien und die deutlich mehr böten als bloße Dokumentation. Mit ihrer beider Deportation nach Auschwitz im August 1944 endet die Enzyklopädie. Rosenfeld wird dort vermutlich umgehend ermordet, Singer stirbt wenige Monate später im Dachauer Außenlager Kaufering.

Zurück zu den Zielen der Verfasser, die sie mit der Enzyklopädie verknüpfen. Vor jeder literarischen Experimentierfreude steht die sorgfältige Chronistenpflicht, also die Vergewisserung und Dokumentation dessen, was zeitlich vor und räumlich außerhalb des Gettos begrifflich unbekannt, undenkbar gewesen ist. Indem Teile dieses Kosmos erschlossen und festgehalten werden, wird die Außen- und vor allem Nachwelt jedoch konkret mitgedacht und entstehe letztlich, so Rosenfeld, eine "lexikale Kulturgeschichte" (11) des Gettos: "In einer späteren Epoche [...] wird solch eine Sammlung, solch eine Enzyklopädie dort Aufklärungen geben können, wo die blosse Schilderung der Zustände nicht ausreicht." (ebd.) Markus Roth greift diese Ambition in seinen Anmerkungen zur Konzeption der Enzyklopädie auf und umreißt das "Vermächtnis an die Nachwelt" (373) als die zentrale Zielsetzung. Eine weitere Absicht macht Jörg Riecke am Tempus-Gebrauch der Enzyklopädie fest, die im Präteritum verfasst ist. Die Autoren setzten sich damit bewusst ab von der real erlebten, höchst akuten Bedrohung und behandelten sie als in gewisser Weise abgeschlossen. [4] Riecke geht bei diesem Phänomen, das bei autobiografischem Material gerade aus Krisensituationen stets mitzudenken ist, von einer Bewältigungsstrategie mit "kathartische[r] Funktion" (369) aus.

Inhaltlich bietet die Enzyklopädie einen großen Bestand an Begriffen, Namen, Wortvarianten und Neologismen von A wie "Abbruchstelle" (16ff.) bis Z wie "Zingl" - aus dem ursprünglichen Zünglein an der Waage wird im Getto ein "Synonym für falsches Gewicht" (210) im Zusammenhang mit der Lebensmittel-Ausgabe. Alle Termini wurden innerhalb der Straßenzüge des Gettos ausschließlich mündlich weitergetragen, entwickelten sich fort, schwappten häufig in die anderen verwendeten Sprachen über. So etwa das "Blokirn" (45, deutsches Typoskript; 274, jiddisches Typoskript) für die Unterbrechung der Lebensmittelversorgung oder die "Sperrstunde" (171f., deutsches Typoskript; 254, polnisches Typoskript). Die zahlreichen Personen-Einträge schließlich intendieren, dem Vergessen entgegenzuwirken: Samuel Topilski etwa erhält einen einzeiligen Vermerk über sein Geburtsdatum und sein Amt als Leiter der Gerberei (vgl. 183), Helena Rumkowski, Schwägerin des Judenältesten, wird in gleich zwei Einträgen für ihre "soziale Tätigkeit" (165) in diversen karitativen Einrichtungen gewürdigt.

Die abgebildeten Einträge lassen thematische Schwerpunkte erkennen, die aus den drängenden Fragen dieser Zeit resultieren. Formale Begriffe oder Regelungen ("Identitaetskarte", 93; "Arbeitseinsatz", 19ff.) liefern allgemeine Orientierung. Vermerke zu Örtlichkeiten und Institutionen zeichnen ein konkretes Bild einzelner Viertel ("Baluter Ring" als "neutrale Zone", 32) und Einrichtungen des Gettos: sowohl gefürchteter ("Glaser's Fabrik", 79, ein Konzentrationslager) als auch geschätzter wie dem "Kulturhaus" (111) mit seinen "Revuen" (155f.) oder den "Leihbibliotheken" (114f.) als Ablenkung für Tausende Abonnenten. Im Zentrum steht fraglos die Bewältigung des Alltags, gekennzeichnet durch die katastrophale Versorgungslage. Die Enzyklopädie beinhaltet hierzu diverse Verweise auf Erkrankungen ("Avitaminose", 28; "Pelagra", 140f.; "Vigantol", 193), Lebensmittel ("Babka", 31, eine Art Brotersatz, oft hergestellt aus Kartoffelschalen, oder "Kleik", 103f., eine einfache Suppe) und Rauchwaren. Die Zigaretten-Bezeichnungen wie "Ballerina" (31) oder "Gute Gemachte" (83) zeugen ebenso von Wortwitz wie die ergänzenden Beschreibungen: "von besonders schlechter Qualität in buntesten Packungen und unter phantastischen Bezeichnungen [...] Von echtem Tabak keine Spur." (38) Neben solcher Freude an Formulierungen scheint immer wieder unvermittelt das Entsetzen durch, ersichtlich an Einträgen wie "Klepsydra" (104; im polnischsprachigen/jiddischen Kontext ein Mensch kurz vor dem Hungertod, abgeleitet von der Sanduhr als Symbol ablaufender Lebenszeit) oder "Paravent" (139; eine Trennwand, mit deren Hilfe Sterbenden im Spital ein Hauch Intimität ermöglicht werden sollte).

Dass ein sorgfältig kommentiertes Glossar von diesem Wert nun einer breiten Leserschaft mit verschiedenen sprachlichen Zugängen zugänglich ist, resultiert aus der intensiven Auseinandersetzung des Herausgeber-Teams mit dem Lodzer Getto: Neben der Historikerin Andrea Löw und ihren Studien sei zuvorderst der Germanist Sascha Feuchert genannt, dessen Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen seit fast zwanzig Jahren für maßgebliche Forschungsergebnisse verantwortlich ist. [5] Stellvertretend für solch fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit steht auch der kurz vor Publikation dieses Bandes verstorbene Sprachwissenschaftler Jörg Riecke. Alle Herausgeber ergänzen die Edition mit erhellenden Aufsätzen, ihnen verdanken wir diesen Einblick in eine bis dahin verschlossene Sprachwelt - eine Sprachwelt, deren Ursprünge laut Oskar Rosenfeld "in der Isolierung von der Welt, von der Wirklichkeit, von der Normalität der Dinge" liegen. [6]


Anmerkungen:

[1] Oskar Rosenfeld: Wozu noch Welt? Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz. Herausgegeben von Hanno Loewy, Frankfurt am Main 1994, 79.

[2] Verantwortlich waren die zivile deutsche Gettoverwaltung in Person von Hans Biebow sowie kontrollierende Polizei-Einheiten wie u. a. die Gestapo. Die deutschen Behörden übertrugen zahlreiche Aufgaben dem Judenältesten des Gettos, Chaim Mordechai Rumkowski. Seine Rolle war ambivalent. Innerhalb des Gettos und für seine mehr als 10.000 Mitarbeiter in der jüdischen Administration verfügte er über hohe Autorität, faktisch blieb Rumkowski zu jeder Zeit abhängig von den Interessen der deutschen Besatzungsmacht. Vgl. zur Geschichte des Gettos als ersten Überblick den Aufsatz von Andrea Löw in diesem Band (338-348) und den Artikel "Enzyklopädie des Lodzer Gettos - ein unvollendetes Projekt des Getto-Archivs von 1944" (Krystyna Radziszewska in den Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica 13. 2017, 113-124). Als relevanteste Darstellung der Geschichte des Gettos darf die umfassende Studie von Andrea Löw bezeichnet werden: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006.

[3] Exemplarisch sei hier auf den Wirtschaftsredakteur Peter Wertheimer, den Juristen und Archiv-Gründer Henryk Neftalin (vgl. Singers Eintrag, 131f.) sowie auf Józef Zelkowicz verwiesen, dessen jiddische Tagebücher seit einigen Jahren vorliegen. (Józef Zelkowicz: In diesen albtraumhaften Tagen. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz / Litzmannstadt, September 1942. Herausgegeben und kommentiert von Angela Genger, Andrea Löw und Sascha Feuchert. Aus dem Jiddischen übersetzt von Susan Hiep. Eine Publikation der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen) und des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München, Berlin / Göttingen 2015.

[4] Besonders ins Auge fällt diese Perspektive bei den beiden Einträgen zu Oskar Rosenfeld selbst, für die Oskar Singer und er selbst verantwortlich zeichnen, vgl. 157ff.

[5] Im Zentrum steht die aufwändige Edition der Getto-Chronik: Sascha Feuchert / Erwin Leibfried / Jörg Riecke (Hgg.): Die Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt. 5 Bde. Unter Mitarbeit von Imke Janssen-Mignon, Andrea Löw, Joanna Ratusinska, Elisabeth Turvold und Ewa Wiatr. In Kooperation mit Julian Baranowski, Joanna Podolska, Krystina Radziszewska und Jacek Walicki, Göttingen 2007.

[6] Vgl. Rosenfelds Passus in der Enzyklopädie zu Nachrichten und Gerüchten, dem so genannten "Getto-Neues" (78).

Benedikt Faber