Birgit Lodes / Melanie Unseld / Susana Zapke: Wer war Ludwig van? Drei Denkanstöße (= Wiener Vorlesungen; Bd. 197), Wien: Picus Verlag 2020, 79 S., ISBN 978-3-7117-3017-6, EUR 10,00
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Julia Ackermann / Melanie Unseld (Hgg.): BEETHOVEN.AN.DENKEN. Das Theater an der Wien als Erinnerungsort, Wien: Böhlau 2020
Werner Busch / Martin Geck: Beethoven-Bilder. Was Kunst- und Musikgeschichte (sich) zu erzählen haben, Stuttgart: J.B. Metzler 2019
Melanie Unseld (Hg.): Delights of Harmony. James Gillray als Karikaturist der englischen Musikkultur um 1800, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017
Die Differenz zwischen historischem Subjekt und Projektionen der Nachwelt ist wohl bei kaum einem Komponisten so groß wie bei Beethoven, dessen Name als Synonym für Klassik und autonome Kunst geriert, ohne dass die Person, die sich hinter den Klischees verbirgt, mehr als in Anekdoten aufschiene. Die Hartnäckigkeit, mit der sie sich halten, ist freilich nicht nur selbstreferentiell, sondern basiert auch auf einer Vielzahl von Mitteilungen der Zeitgenoss*innen, die zwar das Ihre zur Befestigung von Topoi beitrugen, doch in so vielen Akzidenzbestimmungen konvergieren, dass es schwerfällt, sie pauschal zu delegitimieren. So notwendig es ist, diese Quellenschicht zu differenzieren, so unmöglich, sie zu ignorieren. Die Kritik freilich fällt umso schwerer, als unklar ist, inwieweit Beethoven selbst an der Befestigung eines bestimmten Bildes seiner Person aktiv mitwirkte; und ein vorschnelles Urteil über tendenziöse Projektionen der Nachwelt übersieht, dass Rezeption ohne Selektion prinzipiell nicht möglich ist, zudem nur bestimmte Teile des Œuvres wirkungsgeschichtlich relevant geworden sind.
Fraglos ist es aber - zumal in Gedenkjahren - sinnvoll, sich über Konventionen des Umgangs mit "großen" Komponisten zu verständigen, Rezeptionsschichten zu identifizieren und freizulegen, mit dem Ziel, hinter den Verstellungen und Überzeichnungen eine Person in ihrem lebensgeschichtlichen Umfeld zu charakterisieren. Ob dazu im Falle Beethovens die Verkürzung auf den Vornamen hilft, sei dahingestellt; denn auch dieser Zugang hat bereits Geschichte und impliziert weniger ironisierende Distanz, die Mauricio Kagel bei seiner filmischen Hommage von 1970 nutzen wollte, um durch Übertreibungen auf die Überlagerungen der historischen Figur aufmerksam zu machen, als den Vorwurf einer gleichermaßen naiven wie prätentiösen Vertraulichkeit, derer schon Wolfgang Hildesheimer die Amadeus-Liebhaber im Mozart-Publikum zieh.
Im ersten der drei Plädoyers, die drei Wiener Musikwissenschaftlerinnen für eine neue Sichtweise auf den alten Meister im Rahmen einer öffentlichen Vorlesung des Kulturamts der Stadt Wien hielten, akzentuiert nun Birgit Lodes, seit ihrer Dissertation zur Missa solemnis eine Instanz der Beethoven-Forschung, die Provenienz des Protagonisten aus dem höfischen Milieu. Beethoven erfuhr seine musikalische Sozialisation in der Hofkapelle des Kölner Kurfürsten in Bonn und auch in Wien waren es die Kreise des Adels, die der Freigeist ungeachtet seiner Begeisterung für die Französische Revolution suchte: widersprüchlich nur für diejenigen, die in starren gesellschaftlichen Fronten denken und das Dispositiv von Erwerbsmöglichkeiten für unabhängige Künstler*innen außer Acht lassen. Und dass Beethoven keineswegs der einsame Künstler sein wollte, zu dem er durch seine Schwerhörigkeit wurde, zeigt nicht zuletzt seine vielfach artikulierte, berechtigte Angst vor einer Ertaubung, mit der sich seine Sozialkontakte minimieren würden. Inwieweit freilich diese biografisch gut belegten und auch im künstlerischen Handeln auffälligen Sachverhalte zu einer neuen Hörweise der Bonner Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. (1790) oder des Elegischen Gesangs op. 118 führen, bleibt unklar. Denn weder beruht die Bedeutung, die man Person und Werk Beethovens attestiert, nur auf der strukturellen Dichte seiner Kompositionen noch gar auf der Rätselhaftigkeit des Spätwerks, vielmehr dürfte sie ihre weltweite Wirkung auf dem emotiven Potenzial und einem appellativen Impetus zumal der Symphonien als öffentlicher Rede geschuldet sein.
Auch Melanie Unseld, ausgewiesene Expertin in der Erforschung der Modi musikalischer Biografik, weiß ein Beethoven-Bild, das die Züge des Heroen und Titans, des einsamen, sozial depravierten und letztlich nicht-integrierten Künstler trägt, zu dekonstruieren, indem sie mit Nachdruck auf die Notwendigkeit verweist, Quellen und Berichte der Zeitgenossen nicht unreflektiert als Sachaussagen zu werten, sondern ihrerseits kritisch zu evaluieren. Allerdings bietet sie keine neuen Deutungsperspektiven an, sondern schließt sich jenem Entwurf von Beethoven als Exponenten einer Salon- und Diskurs-Kultur an, den Hans-Joachim Hinrichsen jüngst vorgelegt hat (seinerseits als Fortschreibung eines Paradigmas von absoluter Musik, das seit Hanslick, Adorno und Dahlhaus die Beethoven-Deutung bestimmt).
Nicht weniger reflektiert, doch den diskurstheoretischen Zugang nun weit über Michel Foucault erweiternd, zeigt der Beitrag von Susana Zapke Facetten der Beethoven-Rezeption in den bildenden Künsten auf. Weniger die Figur Beethovens steht im Mittelpunkt einiger Fallstudien, sondern die Wirkung, die seine Musik auslöst: stimmungshafte Bilder, deren Verweiskraft auf ihren Urheber allerdings oft arbiträr bleibt, immerhin viele Ansätze bietet, ikonologische Spuren nachzuzeichnen. Dabei liegt der Fokus auf Malereien des (ausgehenden) 19. Jahrhunderts, mithin zu Zeiten, als die Erinnerung an das historische Subjekt sukzessive von Projektionen überlagert wurde.
Auf unterschiedliche Weise stimulieren alle drei Beiträge dieses schmalen Bandes eine intensivere Beschäftigung mit der Beethoven-Rezeption, die bislang nicht systematisch aufgearbeitet wurde. Mit den schönen Publikationen von Helmut Loos (Beethoven und die Nachwelt. Materialien zur Wirkungsgeschichte, Bonn 1986) und Rainer Cadenbach (Mythos Beethoven. Eine Ausstellung des Vereins Beethoven-Haus Bonn, Laaber 1986), beide seinerzeit in Bonn tätig, liegen gehaltvolle Studien zu diesem großen Themenkomplex vor, die der vorliegende Band nicht explizit aufgreift; deutlich wird aber allenthalben, welch reiches Potenzial hier für ein Verständnis Beethovens und seiner Musik noch zu erschließen ist.
Michael Heinemann