Rezension über:

Hannah Röttele: "Objektbegegnungen" im historischen Museum. Eine empirische Studie zum Wahrnehmungs- und Rezeptionsverhalten von Schüler_innen, München: kopaed 2020, 256 S., ISBN 978-3-86736-544-4, EUR 22,80
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Rezension von:
Patrick Ostermann
Institut für Geschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Patrick Ostermann: Rezension von: Hannah Röttele: "Objektbegegnungen" im historischen Museum. Eine empirische Studie zum Wahrnehmungs- und Rezeptionsverhalten von Schüler_innen, München: kopaed 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/35652.html


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Hannah Röttele: "Objektbegegnungen" im historischen Museum

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Die vorliegende Dissertation entstand im Rahmen des bei Michael Sauer an der Georg-August-Universität Göttingen angesiedelten Forschungsprojektes "Mit der Schule ins Museum" und wurde im Jahr 2019 mit dem Arnold-Vogt-Preis für Museumspädagogik ausgezeichnet. Methodisch basiert die Studie auf einer empirischen phänomenologischen Analyse der qualitativen Sozialforschung. Die Autorin geht dabei von der Hypothese aus, dass es sich bei der Anschaulichkeit und Aura der Objekte nicht um deren immanente Merkmale selbst, sondern um Wahrnehmungskategorien handele. Denn erst indem ein Betrachter die Objekte sinnlich erfahre, sie "anschaue", entfalteten diese ihr ästhetisches Potenzial. In diesem Zusammenhang verweist die Verfasserin darauf, dass das altgriechische 'aisthesis' Wahrnehmung bedeutet (10-11). Entsprechend steht die Erfassung des positivistischen Wissenserwerbs nicht im Vordergrund ihres Erkenntnisinteresses.

Zum Aufbau der Studie: Im ersten Kapitel wird zunächst der Forschungsstand rekapituliert, im zweiten die Methodik dargelegt. Das Sample besteht aus vier Schulklassen der Stufe sieben, die das stadtgeschichtliche Historische Museum Hannover besuchten. Ihre Besuche wurden mit der Videokamera aufgezeichnet. Mittels eines "ethnographischen" Zugangs der teilnehmenden Beobachtung soll ergründet werden, wie die Schüler und Schülerinnen sich Objekte aneignen. Im Anschluss daran werden im dritten Kapitel die Daten unter anderem mittels der Grounded Theory ausgewertet, um so - durch die Form der "dichten Beschreibung" - die zugrundeliegenden Strukturmerkmale der Objektbegegnungen herauszuarbeiten. Besonderes Augenmerk richtet Röttele dabei auf die Rolle des museumspädagogischen Rahmens, der eingangs geschildert wird (55-65). Die von den Lernenden vorgetragenen Narrative werden dabei jeweils mithilfe der relevanten Literatur interpretiert.

Die Verfasserin kommt dabei zu folgenden Ergebnissen: Kompetenzen werden bei Museumsbesuchen eher nicht vermittelt (63). Außerdem machten visuelle und akustische Einschränkungen Museen zumindest teilweise zu "Orten der Nichtwahrnehmung" (150). Vor allem sieht Röttele aber ein zentrales Defizit bei Schülerbesuchen in Museen: Historische Sachzeugnisse fristen ein Schattendasein, weil sie in den Arbeitsaufträgen allzu häufig nur als Aufhänger für Themen genutzt werden. Das sei deshalb beklagenswert, weil Museen keine "kognitiven 'Lernorte'" seien. Für die Wissensvermittlung sei der schulische Geschichtsunterricht ohnehin besser geeignet. Auf diese Weise würde aber der didaktische Mehrwert des Museumsbesuchs, so Röttele, vertan, denn historische Objekte ermöglichen, nach ihren Schlussfolgerungen, einen sinnlichen Zugang, der zu einer erweiterten Vorstellungsbildung, mithin zur Genese von ästhetischem Geschichtsbewusstsein führt. Demgemäß plädiert sie dafür, durch ein museumspädagogisches Setting bei den Lernenden, "eine besondere Dichte" an Vorstellungen zu erzeugen. Dabei ist ihr Ziel, die Schüler und Schülerinnen selbst zu Akteuren und Akteurinnen zu machen. Als gelungenes Beispiel führt sie das spontane Ausbrechen aus Routinen im Falle eines imaginierten Schwertkampfes zweier Schüler an, die auf diese Weise ihre Arbeitsergebnisse illustrieren wollten (195-203). Ebenso befürwortet die Autorin, unter anderem eine pantomimische Aneignung der Objekte durch die Lernenden zu ermutigen, um der Bedeutung von Gesten und Bewegungen für die Vorstellungsbildung Rechnung zu tragen (227).

Längst nicht jede geschichtsdidaktische Studie bewegt sich auf so sicherem kultursoziologischem Fundament wie die vorliegende. Nicht nur werden die phänomenologischen Klassiker wie Husserl, Luckmann und Schütz nutzbar gemacht, mit der Grounded Theory wurde diejenige Methode der verstehenden Soziologie ausgewählt, die für das vorliegende Sample als Analyseinstrument am erfolgversprechendsten ist. Das vor allem deshalb, weil diese qualitative Forschungsmethode besonders geeignet ist, die Bedeutung menschlicher Erfahrung - in diesem Fall den Prozess der ästhetischen Aneignung von historischen Objekten - zu rekonstruieren und sozial zu verorten. Röttele gelingt es dabei vorbildlich, signifikante Aussagen über die Genese subjektiver historischer Vorstellungsbildung aus dem Videomaterial interpretativ zu entwickeln.

Ebenfalls wird ein guter Überblick über die Befunde der Besucherforschung gegeben. Schade ist nur, dass die empirischen Studien zur Bedeutung von Gedenkstätten als Lernorte von Bert Pampel unerwähnt bleiben, der für diese Unterform von Geschichtsmuseen zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt. [1] Genauso hätten Aleida Assmanns kulturwissenschaftliche Studien weitere Impulse zur vorliegenden Thematik geben können. [2]

Bei der Vielzahl der relevanten geschichtsdidaktischen Publikationen kann wohl nicht jede Monografie berücksichtigt werden. Dass aber ausgerechnet Jörn Rüsens Forderung nach einer neuen Didaktik für historische Museen unerwähnt bleibt, ist sicherlich ein Manko, gerade deshalb, weil sie in hohem Maße für die vorliegende Studie relevant ist. Denn Rüsen will, dass Ausstellungen als "Medium der sinnlichen Anschauung" begriffen und die ästhetischen Dimensionen historischer Museen stärker in den Vordergrund gerückt werden. [3] Und auch in seiner funktionalen Typologie des historischen Erzählens hält es Rüsen unter ausdrücklichem Bezug auf den Schütz-Schüler Thomas Luckmann für nötig, dass sich die angesprochene Synthese jeweils als subjektiver Sinnbildungsprozess des historischen Erzählens vollzieht. Genau dafür plädiert die Verfasserin nachdrücklich.

Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Studie um eine theoretisch wie gleichermaßen methodisch fundierte und lesenswerte Untersuchung, weil sie über das in der geschichtsdidaktischen Forschung nicht immer im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende ästhetische Lernen höchst relevante Aufschlüsse liefert.


Anmerkungen:

[1] Bert Pampel: Die Bedeutung von Gedenkstätten als Lernorte für Schüler. Thesen auf Basis empirischer Befunde, in: Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa, hgg. von Patrick Ostermann / Claudia Müller / Karl-Siegbert Rehberg, Bielefeld 2012, 187-202.

[2] Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.

[3] Jörn Rüsen: Für eine Didaktik historischer Museen - gegen eine Verengung im Streit um die Geschichtskultur, in: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, hg. von ders., Köln [u.a.] 1994, 171-187.

Patrick Ostermann