Rezension über:

Jens Elberfeld: Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2020, 704 S., ISBN 978-3-593-51098-9, EUR 58,00
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Rezension von:
Viola Balz
Evangelische Hochschule Dresden
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Viola Balz: Rezension von: Jens Elberfeld: Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35532.html


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Jens Elberfeld: Anleitung zur Selbstregulation

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"Wir leben in einem therapeutischen Zeitalter" - mit dieser mehr oder weniger einfachen Zeitdiagnose beginnt Jens Elberfeld seine Studie über die Therapeutisierung von Selbst und Gesellschaft. (9) Besonders interessiert den Autor, wie es möglich wurde, dass sich anfänglich medizinische Behandlungsmethoden auf immer größere Personenkreise und weitere Anwendungsbereiche ausdehnen konnten. Deren Zweck sei nicht mehr vorrangig die Heilung von psychischen Krankheiten, sondern die Arbeit am eigenen Selbst gewesen. Seine Geschichte der Therapeutisierung versteht Elberfeld als einen Beitrag zur Geschichte der Gegenwart, die er in Anschluss an Michel Foucault über eine strikt genealogische Perspektive untersucht. Als Quellen dienen ihm im Wesentlichen wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher und Zeitschriften sowie graue Literatur der Therapieszene. Zum Forschungsstand konstatiert der Autor treffend, dass sich die Psychiatriegeschichte hauptsächlich mit einzelnen Krankheitsbildern beschäftigt und diese nur sporadisch ins Verhältnis zur Therapeutisierung gesetzt habe, während Studien zur Therapeutisierung sich vor allem auf das populäre Psychowissen konzentrierten, ohne die sich verändernden Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit zu thematisieren. [1] Demgegenüber möchte er wissen, wie sich das Wissen über psychische Krankheiten mit dem fortwährenden Wandel des Psychowissens veränderte. Untersucht werden soll hier insbesondere die Familientherapie und die mit ihr einhergehende Konstitution eines spezifischen therapeutischen Selbst, das die Vorstellung des Sozialen gesamtgesellschaftlich prägte.

Im ersten Teil der Arbeit versucht Elberfeld die Modelle von psychischen Krankheiten in der longue durée herauszuarbeiten. Er konstatiert, dass sich im 19. Jahrhundert drei idealtypische Modelle herausbildeten: ein medizinisches, ein psychisches und ein soziales Modell. Zunächst zeichnet Elberfeld die Vernaturwissenschaftlichung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert nach. Hier ließe sich parallel zur Somatisierung eine Psychologisierung psychischer Krankheiten beobachten. Zeitgleich mit der Etablierung der Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts entstand die moderne Psychotherapie. Diese konnte sich Elberfeld zufolge erst mit der Freud'schen Psychoanalyse und ihrer um 1900 strikt psychologisch orientierten Neurosentheorie vollständig entwickeln. Hier verortet er die Genese einer Psycho-Therapeutisierung des Selbst.

Neben dem medizinischen und psychischen Modell entwickelte sich nach Elberfeld auch ein soziales Modell psychischer Krankheiten, das seinen Ausgangspunkt in unorthodoxen Formen der Psychoanalyse nahm und vor allem mit dem Aufkommen kybernetischer systemischer Modelle seit den 1950er Jahre prominent wurde. Dieses habe sich - so Elberfeld - radikal vom medizinischen Modell abgehoben, da es sich zentral auf die Kommunikation konzentrierte. Damit setzte eine Entpathologisierung und Normalisierung und damit einhergehend ab den späten 1960er Jahre ein Psychoboom ein, der die Therapeutisierung für breite Teile der Gesellschaft öffnete.

Im zweiten Teil der Arbeit widmet sich Elberfeld der Ausbildung des therapeutischen Feldes im Kontext des Wohlfahrtstaates und ihrer weiteren Diffusion in einen sogenannten grauen Markt. Er skizziert eine Ausweitung der Psychotherapie, angeregt durch die Psychiatriereform und die Anerkennung einzelner Verfahren als Kassenleistung. Gleichzeitig dehnte sich die Therapeutisierung über verschiedene Beratungsstellen und die Soziale Arbeit immer mehr aus. Dies führte dazu, dass nun auch marginalisierte und dezidiert nicht-bürgerliche Gruppen psychosoziale Unterstützung erhielten. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die starke Ausbreitung der Beratungstechniken im "Alternativen Milieu" in der Zeit "nach dem Boom". Der Autor konstatiert, dass sich durch den Wohlfahrtsstaat und die Verbreitung vieler helfender Berufe die Therapeutisierung schließlich durchsetzen konnte. Dies sei nur durch die Vorzüge des sozialen Modells und der damit einhergehenden Entpathologisierung und Normalisierung möglich geworden.

Im dritten Teil seiner Studie widmet Elberfeld sich schließlich der Familientherapie. Zunächst aus psychoanalytischen Ansätzen entwickelt, orientierte diese sich seit den 1970er Jahren insbesondere an einer Kybernetik im Sinne Gregory Batesons. Gerade die entpathologisierende Ausrichtung und der konsequente Rückzug auf eine Beobachterposition machten sie nutzbar für ein sogenanntes social engineering. Für eine damit einhergehende "Verwissenschaftlichung des Sozialen" zeigte sich die Familientherapie als hochgradig anschlussfähig, da auch die Familienkonzepte tiefgreifendem Wandel unterlagen. Traditionelle Familienformen wurden zusehends problematisiert und primär als Kommunikationssystem verstanden, das die Funktion der Sozialisation zu erfüllen habe. Elberfeld konstatiert dabei aus einer subjektgeschichtlichen Perspektive, dass die Familie dabei weniger einen Liberalisierungs- als vielmehr einen Therapeutisierungsprozess durchlief und sich statt an starren Normen an einem flexiblen Normalismus orientierte. Ehe und Partnerschaft gewannen in der Folge an Bedeutung, da man von hier aus seine Individualität finden sollte. Dass die Therapeutisierung sich seit Ende der 1960er Jahre stark ausbreitete, macht der Autor vor allem an einem Wandel der hegemonialen Subjektkultur fest.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass Jens Elberfeld eine vielschichtige und analytisch hochgradig interessante Perspektivierung der Therapeutisierung gelungen ist. Dabei macht er es sich und der Leserschaft nicht immer einfach. Gerade im ersten Teil fragt man sich, warum die longue durée der Therapeutisierung hier so ausführlich beschrieben wird. Dies ist insbesondere dort unnötig, wo der Autor die Geschichte der Somatisierung bzw. Orientierung am medizinischen Modell ausführlich nachzeichnet, obwohl diese innerhalb der Psychiatriegeschichte gut untersucht und hinlänglich bekannt ist. Auch seine weitere Differenzierung einer Ablösung des somatischen Modells durch das psychische (Freud) und soziale (Kybernetik) Modell ist zu verkürzt. Durch die Instanz des Über-Ich war die Gesellschaft in Freuds Modell immer schon mitgedacht, wenn auch in verinnerlichter Form. Auch lässt sich das ab den 1960er Jahren aufkommende Modell statt als soziales eher als psychosoziales beschreiben.

Gerade im zweiten Teil seiner Studie betritt der Autor aber mit seiner Verbindung der Diskurse von Psychiatrie, Psychologie, Sozialer Arbeit und Wohlfahrtsstaat Neuland und es gelingt ihm in diesem noch kaum untersuchten Feld nicht nur einiges an Pionierarbeit, sondern seine Analyse ist mit seiner konsequent subjektgeschichtlichen Perspektivierung auch in hohem Maß ertragreich für eine neue Geschichte der Therapeutisierung in und jenseits der Psychiatrie. Besonders überzeugend ist schließlich, dass Jens Elberfeld einen klaren subjekttheoretischen Zugang wählt, der zwar gouvernementalitätstheoretisch inspiriert ist, sich jedoch weder dazu verführen lässt, die Entwicklung lediglich als neue Machttechniken zu beschreiben, noch in ihnen neue liberale Freiheiten des Subjekts entdeckt, sondern sich darauf konzentriert, konkrete Selbstverhältnisse sowie damit verbundene Selbsttechniken konsequent in ihrer Ambivalenz zu historisieren und zu problematisieren.


Anmerkung:

[1] Vgl. zu dieser Kritik auch Alexa Geisthövel / Marcel Streng: All you can treat. Therapeutisierungsprozesse im 20. Jahrhundert, Historische Anthropologie 27 (2019).

Viola Balz