Rezension über:

Anna Bücheler: Ornament as Argument. Textile Pages and Textile Metaphors in Early Medieval Manuscripts, Berlin: de Gruyter 2019, 261 S., 113 Farb-, 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-053070-4, EUR 79,95
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Rezension von:
Kristin Böse
Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Rebecca Müller
Empfohlene Zitierweise:
Kristin Böse: Rezension von: Anna Bücheler: Ornament as Argument. Textile Pages and Textile Metaphors in Early Medieval Manuscripts, Berlin: de Gruyter 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/06/34072.html


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Anna Bücheler: Ornament as Argument

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Mit der Konjunktion 'as' wird deutlich, dass Anna Bücheler in ihrer Dissertation das Ornament nicht als das Andere des Arguments denken möchte [1], sondern dass es ihr im Gegenteil um seine bedeutungsstiftende Funktion geht. Büchelers Erkenntnisinteresse richtet sich auf frühmittelalterliche Handschriften, die sich durch ganzseitige ornamentale Gestaltungen auszeichnen. Die an ihnen beobachteten textilen Bezüge erweiterten das kunsthistorische Vokabular um Begriffe wie 'Teppichseite' beziehungsweise 'carpet page'. [2] Aber in welcher Weise das Textile im Medium der Buchmalerei als Muster, Material oder Technik und mit welchen Implikationen wirksam wird, wurde bisher kaum in grundsätzlicher Weise erarbeitet.

Die von Anna Bücheler untersuchte Handschriftengruppe ist umfangreich. Die zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert in den Skriptorien des ostfränkischen Reiches entstandenen liturgischen Codices zeichnen sich durch gerahmte Illuminationen aus, welche durch die flächige, oft symmetrische Anordnung von Ornamenten bestimmt sind. Mit dem Schlagwort 'textility' (135f., 145-147) ist das methodische Vorgehen angedeutet: Bücheler, die mit der Züricher Forschergruppe Textile: An Iconology of the Textiles in Art and Architecture assoziiert war, wirft den Blick auf die textilen Referenzen mithilfe von biblischen, exegetischen, liturgischen sowie weiteren theologischen Texten. Insofern wird hier ein Puzzleteil für das Bild geliefert, das sich die mediävistische Forschung seit geraumer Zeit von Material und Materialität, Transmaterialität und Transmedialität in Bezug auf Ornament und Textil in den mittelalterlichen Bildkulturen zu machen sucht. [3]

Der zentralen Frage, was berechtigt, die ornamentalen Felder als 'textile ornament' oder 'textile-like ornament' zu verstehen, widmet Bücheler das erste Kapitel. Als ein wesentliches Kriterium benennt sie das zumeist purpurfarbene Erscheinungsbild. Zwar handelt es sich in der Regel nicht um Purpurfarbstoffe, gleichwohl ergibt sich aus der Farbwirkung eine enge Verbindung zu purpurgefärbten Stoffen, die aufgrund ihrer Herkunft hoch geschätzt wurden. Hinzu kommt die sich wiederholende, an den Musterrapport in gewebten und bedruckten Stoffen erinnernde Anordnung der Ornamente. Ferner sei die geometrische und symmetrische Kombination der Motive entscheidend (43, 44), nicht das Motiv in seiner spezifischen Form und Ikonografie. Die genannten Kriterien sind Bücheler zufolge Grundlage eines allgemein zu verstehenden 'iconographic code', durch den der gemalte Ornamentgrund als Textil erkannt worden sein soll. Durch ihren Ansatz einer primär textilmetaphorischen Deutung erteilt sie solchen Überlegungen eine Absage, die Ornamentseiten als Kopien von Mustergründen vorhandener Textilien verstehen.

Dass sich gleichwohl auch Bezüge zu anderen Gattungen und Medien wie Elfenbeine, Mosaiken oder Chorschranken aufzeigen lassen, wird registriert (61-63). Dennoch interessiert die Autorin nachfolgend ausschließlich der textile Kontext, was sich für die Arbeit als ein Knackpunkt erweist. So bleibt unklar, in welchem Verhältnis die Evokation anderer Materialien und Techniken dazu steht. Darüber hinaus treten aus der Perspektive eines allgemein veranschlagten ikonografischen Codes formale Unterschiede in den Hintergrund: Aber ist es für die Bildwahrnehmung wirklich unerheblich, ob man es wie im Bernward-Evangeliar mit einem zweidimensionalen Ornamentfeld zu tun hat oder einen in Falten gelegten, an Vorhänge erinnernden Mustergrund?

Es folgt eine an Argumenten reiche Untersuchung, in der Bücheler die Vielfalt textiler Metaphern für das Verständnis ornamentierter Seiten, aber auch frühmittelalterlicher Codices insgesamt darlegt. Im zweiten Kapitel wird etwa gezeigt, wie 'textile patterns', die innerhalb liturgischer Handschriften vor allem in Schwellensituationen platziert sind, eine revelatorische Funktion übernehmen. Mit Mary Carruthers versteht Bücheler die Seiten als 'Denkmaschinen', als Angebot an den Betrachtenden, den 'sensus spritualis' der Texte zu erkunden - unterstützt durch die Erfahrung, zu blättern und damit metaphorisch den Vorhang zur Seite zu schieben. Die Relevanz textiler Metaphern von Inkarnation und Doppelnatur Jesu Christi (Tempelvorhang) und jungfräulicher Empfängnis (Webstuhl, Weben) ist im dritten Kapitel Thema. Ausschlaggebend ist die häufig purpurgleiche Farbe sowie die Platzierung der 'textile pages', welche etwa im Kontext von Sakramentaren in Nähe des eucharistischen Hochgebets auftreten. Die ornamentale Gestaltung konnte hier, so Bücheler, dem Priester dazu dienen, sich in seiner vermittelnden Rolle mental auf das Sakrament der Eucharistie einzustellen. Das vierte Kapitel ist Codices aus dem Echternacher Skriptorium gewidmet, in denen die als 'textile-like' definierte Ornamentierung sogar bis an den Rand der Buchseiten geführt ist. Die Position am Anfang und Ende eines Evangeliums fällt dergestalt mit dem Anfang und Ende einer Lage zusammen, dass die Muster der aufeinandertreffenden Lagen - so etwa im Codex Aureus - übereinstimmen. Bücheler bringt Metaphern des Textes als Gewebe und der Erzählung als Gewand ins Spiel, die sich hier mit Vorstellungen einer Harmonie der Evangelien und des Lebens Christi als wunderbares Kleid zusammenschließen lassen. Dass auf diese Weise der absente Christus in der Liturgie greifbar gemacht werde, ist überzeugend, weniger hingegen, die Zwei- oder Mehrfarbigkeit der Ornamentgründe (zusätzlich grün und weiß) im Rückgriff auf die Hoheliedexegese auf die Dualität von 'matter' und 'spirit' zu beziehen.

Das führt zum Kern der Kritik zurück: Muss sich ein einmal erarbeitetes Deutungsgerüst für alle Fälle als schlüssig erweisen, insbesondere dort, wo der textile Bezug weniger einleuchtet? Zwei Beispiele: Abgesehen davon, dass im Evangeliar der New Yorker Public Library das blau-goldene Farbspiel der Ornamente in der Darstellung des Matthäus an Emails denken lässt, treten alle vier Evangelisten vor einem asymmetrischen Mustergrund auf, dessen vegetabile Binnenstrukturen auf die figurative Darstellung, auf die Haltung, die Bewegung oder die Faltenzüge der Gewänder abgestimmt sind. Figur und Grund verschmelzen sogar dergestalt, dass Ranken und Evangelisten in einer übergreifenden Kreuzform aufgehen (z.B. bei Lukas). Hier geht es weniger um transmediale Bezüge, um Textil oder Email, sondern die Fähigkeit der Buchmaler, mit ihren eigenen Mitteln kontemplative Anreize zu schaffen. Ferner: Wo der Mustergrund wie in den Echternacher Codices bis an den Rand geführt ist, entsteht dennoch kein rahmenloses Layout, wie Bücheler zugunsten einer virtuellen Transformation von Pergament in Stoff annimmt. Indem der Mustergrund nun selbst eine Binnenrahmung aufweist, kommt eine andere Realität ins Spiel, die die transmedialen Bezüge bewusst verunklärt. Ich meine, dass in der formalen Umsetzung eine Eigenwilligkeit und Mehrdeutigkeit offenbar wird, die sich nicht allein mit 'Textilität' erklären lässt.

Diese kritischen Überlegungen sollen die Leistung des Buches nicht schmälern: Anna Büchelers Arbeit ist ein Gewinn, weil sie mit einer Vielzahl von klugen Beobachtungen und Überlegungen sowie einem breit recherchierten theologischen Kontext die Rolle des Textilen für die sinnliche Bildwahrnehmung aufzeigt. Die Arbeit ist darüber hinaus Anreiz, sich in die ornamentale 'Feldforschung' zu begeben, um von dort aus eine andere Perspektive auf die figurativen Zusammenhänge zu gewinnen. Eindrucksvoll ist schließlich das zusammengetragene Material, und die Leser werden dankbar dafür sein, dass dieses in durchgehend hochauflösenden farbigen Abbildungen verfügbar gemacht wurde.


Anmerkungen:

[1] Zum Ornament als das Andere des Arguments vgl. Margaret Olin: Self-Representation: Resemblence and Convention in Two Nineteenth Century Theories of Architecture, and the Decorative Arts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49,3 (1986), 376-397, hier: 390-392, am Beispiel von Gottfried Semper und Alois Riegl.

[2] Bereits kritisch diskutiert bei Laura Kendrick: Animating the Letter: The Figurative Embodiment of Writing from Antiquity to the Renaissance, Columbus 1999, 103.

[3] Zu transkulturellen und transmateriellen Perspektive etwa zuletzt die Beiträge in Gülru Necipoğlu / Alina Payne (eds.): Histories of Ornament. From Global to Local, Princeton 2019; ferner auch Vera-Simone Schulz: Cangiante Fabrics, Marble Cloths, and the Textility of Stone. Transmaterial Aesthetics in Ambrogio Lorenzetti's Presentation at the Temple and 13th- and 14th-century Tuscan Painting, in: Steinformen. Materialität, Qualität, Imitation (= Naturbilder; Bd. 8), hgg. von Isabella Augart / Maurice Saß / Iris Wenderholm, Berlin / Boston 2019, 279-301.

Kristin Böse