Salmen Gradowski: Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos. Hrsg. von Aurélia Kalisky unter Mitarbeit von Andreas Kilian. Aus dem Jiddischen von Almut Seiffert und Miriam Trinh, 2. Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020, 354 S., ISBN 978-3-633-54280-2, EUR 24,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018
Marcin Zaremba: Die große Angst. Polen 1944-1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eine der wichtigsten Quellen zum Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau erst 2019 auf Deutsch erschienen ist - aber dann gleich zweimal: Die Aufzeichnungen Salmen Gradowskis, eines Angehörigen dieser Einheit von Juden, die die SS als Sklaven für den Betrieb der Gaskammern und Krematorien hielt, hat auch Pavel Polian in einer Edition vorgelegt. [1] Sein Buch unterscheidet sich ganz wesentlich von der hier zu besprechenden Ausgabe Aurélia Kaliskys, denn neben umfangreicheren Einführungstexten druckt er auch die überlieferten Auszeichnungen anderer Sonderkommando-Mitglieder ab und strebt damit Vollständigkeit an.
Dennoch verdient das vorliegende Werk aus mehreren Gründen den Vorzug: Zentral ist gerade für die wissenschaftliche Nutzung die direkte Übersetzung aus dem jiddischen Original; was eigentlich selbstverständlich sein sollte, gelingt bei Polian nur über den Umweg des Russischen. Das macht sich vielfach bemerkbar, zumal die Übertragung durch Almut Seiffert auch literarisch höchst gelungen ist - was bei einer im Kern literarischen Quelle von eminenter Bedeutung ist. Die Unterschiede zwischen den beiden Übersetzungen sind erheblich, die Sprache bei Seiffert ist artifizieller, weniger glattgebügelt und nicht so sehr an unsere heutigen Gewohnheiten angepasst. Exemplarisch zeigt das bereits der Titel, der hier "Zertrennung" lautet, wohingegen der entsprechende Textabschnitt bei Polian mit "Abschied" übersetzt ist.
Kalisky ist Literaturwissenschaftlerin, sie beschäftigt sich generell mit Schreiben im Holocaust und analysiert Gradowskis Aufzeichnungen als Literatur, während Polians Interesse letztlich den aus den Quellen zu gewinnenden Erkenntnissen über Auschwitz gilt. Gradowski war einer der Anführer des Aufstands des Sonderkommandos am 7. Oktober 1944, seine Schriften sind für Polian hauptsächlich wegen ihrer Fülle an Informationen relevant. Das ist natürlich eine legitime Perspektive, führt aber dazu, dass der Text als solcher in den Hintergrund rückt. Und weil es sich hier um zwei parallele "Erstveröffentlichungen" handelt, findet eine gegenseitige kritische Rezeption nicht statt, die zweifellos fruchtbar gewesen wäre - auch und gerade unter Einbeziehung früherer fremdsprachiger Editionen, die im Kommunismus teils sogar zensiert wurden.
Es bleiben daher zwei ganz unterschiedliche Publikationen, die freilich beide kompetent mit dem Autor, der Genese seines Textes sowie dessen abenteuerlicher Überlieferung in den Ruinen des zerstörten Krematoriums III in Birkenau vertraut machen. Jenseits davon können sie in den umfangreichen Analysen unterschiedlicher kaum sein: Polians Erläuterungen sind oft polemisch, er beschäftigt sich mit der Geschichte des Lagers Auschwitz und teilt gegen die bisherige Historiografie aus. Kaliskys Wissenschaftsprosa hingegen ist elegant, sie möchte Gradowski als "jüdische literarische Antwort auf die Katastrophe" (54) würdigen und beschäftigt sich nicht mit dem Ablauf oder der Erforschung des Holocaust.
Schreiben gilt Kalisky als Ausdruck der Individualität, explizit gerichtet gegen eine Universalität und Unterschiedslosigkeit der Opfer. Die Analyse dieser Sachverhalte nimmt auch vom Umfang her beinahe monografischen Charakter an und ist höchst instruktiv. Dank einer Einordnung in die populäre jiddische Literatur über frühere Katastrophen des Judentums, etwa die Chmielnicki-Massaker oder das Pogrom von Chișinău, wird Gradowski zum "Bialik von Auschwitz, der den letzten epischen Gesang des ermordeten jüdischen Volkes schrieb" (303), ja sogar zum "Vergil in Auschwitz" (316), der auf Dantes "Göttliche Komödie" Bezug nimmt. Das ist nicht unbedingt das, was das Erstlingswerk eines Schneiders aus der Gegend von Suwałki erwarten lässt - aber eben Ausdruck von Bildung, des Zugangs zu Bibliotheken und nicht zuletzt der jiddischen Schriftkultur.
Der ausdrückliche Wille zur Textgestaltung, zur literarischen Ausformung, ist Zeugnis an sich: Es belegt die Interpretation der eigenen Erfahrung als Weltenende, als eines präzedenzlosen Ereignisses, über das eventuell gar keine Nachgeborenen mehr schreiben können - oder nur die der deutschen "Teufel". Gerade deshalb war es Gradowski wichtig, neben der Dokumentation des Verbrechens seine potenzielle Leserschaft auch anzusprechen; das macht er ganz direkt mit einer Anrede des Lesers, aber eben auch durch intellektuelle Referenzen und die Ausgestaltung des Textes.
Was Kalisky liefert, ist nicht weniger als die Dechiffrierung eines Holocaust-Epos, das auf einer Stufe mit den Werken Jizchak Katzenelsons [2] oder Mordechaj Gebirtigs [3] steht. Es gibt literarische Auskunft über die Vernichtung des osteuropäischen Judentums, im Bewusstsein des sicheren Todes, ohne vom Eindruck des Überlebens überformt zu sein. Das alles präzise herausgearbeitet und analysiert zu haben, parallel zu einer wegweisenden Übersetzung, macht das Buch zu einem Standardwerk der Holocaust-Forschung und belegt eindrucksvoll Notwendigkeit und Bedarf kompetenter Editionen.
Anmerkungen:
[1] Pavel Polian: Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz, Darmstadt 2019. Vergleiche auch meine Rezension in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 69 (2020), 572-574, bzw. in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2021/05/35868.html
[2] Jizchak Katzenelson: Das Lied vom letzten Juden, hg. von Hermann Adler, Zürich 1951, Neuauflage Berlin 1992.
[3] Gertrude Schneider (ed.): Mordechai Gebirtig. His Poetic and Musical Legacy, Westport/CT 2000.
Stephan Lehnstaedt