Rezension über:

Jan Tesař: The History of Scientific Atheism. A Comparative Study of Czechoslovakia and Soviet Union (1954-1991) (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 16), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 355 S., ISBN 978-3-525-31086-1, EUR 70,00
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Rezension von:
Dirk Schuster
Zentrum für Museuale Sammlungswissenschaften, Universität für Weiterbildung Krems / Institut für Religionswissenschaft, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Schuster: Rezension von: Jan Tesař: The History of Scientific Atheism. A Comparative Study of Czechoslovakia and Soviet Union (1954-1991), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/07/36094.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Jan Tesař: The History of Scientific Atheism

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In den letzten Jahren hat die Erforschung des sog. "wissenschaftlichen Atheismus" sowjetischer Prägung einen immensen Aufschwung erfahren. Gab es bereits seit den 1960er Jahren einzelne Studien über die Arbeiten von Wissenschaftlern zur Verhältnisbestimmung von Religion und Atheismus unter den politischen Gegebenheiten des Sozialismus, so hat dieses Feld der Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren durch die Öffnung von Archiven sowie die Möglichkeit von länderübergreifenden Vergleichsstudien inhaltlich wie methodisch vielfach neue Impulse erfahren.

Jan Tesařs Promotionsschrift fügt sich in diese Entwicklung ein, indem er die Ausbildung und Etablierung des wissenschaftlichen Atheismus in der ČSSR und der Sowjetunion einem Vergleich bezüglich Inhalt und Wirkung unterzieht. So ist es Tesařs Anspruch zu zeigen, welche Arten des wissenschaftlichen Atheismus und wie sich dieselben in der ČSSR und der Sowjetunion ausgebildet haben. (9) Leider formuliert der Autor auf den einleitenden Seiten bereits Thesen und Argumente, die nicht sehr überzeugend sind. Dies gilt zum Beispiel für seine Begründung der Auswahl von Sowjetunion und ČSSR als geopolitischer Untersuchungsrahmen (34): Die politische Ausgangslage beider Länder in der Zwischenkriegszeit - Diktatur gegenüber pluralistischer Demokratie - sei unterschiedlich gewesen, weshalb sich ein Vergleich anbiete. Diese Aussage ist nicht zu bestreiten, jedoch kein überzeugendes Argument für einen Vergleich, da in allen Ländern in der Zwischenkriegszeit unterschiedliche politische, kulturelle und soziale Ausgangslagen geherrscht haben. Auch Tesařs Behauptung, es habe bis 1990 keinen Austausch zwischen Wissenschaftlern in "Ost" und "West" gegeben (11), ist falsch, wie ein Blick auf die DDR zeigt. Einen Kardinalfehler begeht Tesař bei der meist christlich-theologisch geprägten Einschätzung des Marxismus-Leninismus als "Quasi-Religion" oder "Ersatz-Religion". Zwar ist Tesař zuzustimmen, dass die Projektion von Institutionen, Denkmustern etc. einer politischen Weltanschauung auf (christliche) Religionsverständnisse keinerlei Aussagekraft über den "religiösen Charakter" einer politischen Ideologie besitzt. (21) Jedoch argumentiert er, dass sich Marxisten niemals als religiös in Bezug auf ihre politische Einstellung bezeichnen würden, Christen und Muslime jedoch schon bezüglich ihres Glaubens. Die reine Selbstklassifizierung - vor allem im Zusammenhang mit Religion - darf in der Wissenschaft nicht als alleiniges, nicht zu hinterfragendes Kriterium für Kategorienbildungen fungieren, was jedoch Tesař an dieser Stelle als Hauptargument ins Feld führt.

Die Arbeit gliedert sich in vier große zeitliche Abschnitte (Zwischenkriegszeit, 1950er Jahre, 1960er Jahre sowie der Zeitraum 1971-1989), wobei jeweils zwischen ČSSR und Sowjetunion unterteilt wird. Die vergleichende Zusammenfassung an jedem Abschnittsende erleichtert es dem Leser erheblich, Tesařs Erkenntnisse in die jeweiligen politischen Kontexte einzuordnen. Die zeitlichen wie auch länderspezifischen Entwicklungen zeichnet der Autor mithilfe von Archivquellen und Publikationen der Protagonisten nach, gerahmt von den jeweiligen politisch prägenden Veränderungen (Stalins Tod, Nikita Chruščevs antireligiöse Propagandaoffensive, Prager Frühling etc.) sowie den institutionellen Bestimmungen und Veränderungen bezüglich der Atheismusforschung.

Besonders positiv hervorzuheben ist Tesařs Einordnung der marxistischen Religionssoziologie in die Veränderungen des wissenschaftlichen Atheismus ab den 1960er Jahren. Bis dahin erfolgte die Erforschung von Atheismus und Religion ausschließlich auf philosophischer Ebene vor dem Hintergrund der marxistischen Säkularisierungstheorie, die besagt, dass Religion zwangsläufig mit der Etablierung des Sozialismus absterben müsse. Mit dem methodischen Wechsel hin zu einer empirisch arbeitenden Religionssoziologie erhielten die Atheismusforscher erstmals "objektive" Datengrundlagen an die Hand, mithilfe derer die Bereiche "Atheismus und Religion" bzw. "Religiosität" empirisch erforscht werden konnten. Dennoch nutzte die marxistische Religionssoziologie ihr innovatives Potenzial nicht aus: Auch weiterhin fungierte die atheistische Weltanschauung als Grundlage ihrer Forschungen, und eine dogmenfreie Untersuchung von Atheismus und Religion war somit nicht möglich. Während sich aber die Religionssoziologie in der Sowjetunion im Laufe der folgenden Jahrzehnte zumindest methodisch weiterentwickeln konnte, orientierte sich diese Teildisziplin des wissenschaftlichen Atheismus in der ČSSR nach der Niederschlagung des Prager Frühlings an den Erkenntnissen und Methoden der frühen 1960er Jahre. Dies geschah aus dem einfachen Grund, dass die tschechoslowakischen Religionssoziologen nunmehr ihre Arbeiten als "nicht revisionistisch" deklarieren mussten, das heißt es konnte nur noch auf jenes Wissen der frühen 1960er Jahre zurückgegriffen werden, welches nicht im Verdacht stand, Ideen des Prager Frühlings zu vertreten.

Es sind diese vergleichenden Darlegungen, die Tesařs Buch tatsächlich interessant machen, da sie dem Leser unmittelbar aufzeigen, welche Auswirkungen bestimmte Ereignisse auf die jeweilige Disziplin im Land hatten. Die Studie besticht ebenso durch ihren Detailreichtum, der durchaus als Grundlage für weitere vergleichende Forschungen zur wissenschaftsgeschichtlichen Ostmitteleuropaforschung genutzt werden sollte. Jedoch überzeugen den Rezensenten, wie dargelegt, manche von Tesařs Aussagen nicht, da sie nicht selten pauschalisierender Natur oder argumentativ schwach hergeleitet sind. So erschließt sich dem Leser bis zum Ende der Lektüre nicht der mögliche Mehrwert der vom Autor vorgenommenen Unterteilung der Denkstile in den jeweiligen Zeitabschnitten. Es ist in der Forschung zum wissenschaftlichen Atheismus sowjetischer Prägung längst bekannt, dass sich die Denkstile der Atheismusforscher und -institutionen von einem antireligiös-propagandistischen hin zu einem eher auf empirischen Daten basierenden (aber immer noch die marxistische Säkularisierungstheorie dogmatisierenden) Denken verlagert haben. An dieser Stelle wäre es aus Perspektive des Rezensenten angebracht gewesen, dass der Autor neuere Forschungen zum wissenschaftlichen Atheismus in anderen Ländern des sowjetischen Einflussgebietes herangezogen hätte, beispielsweise von Atko Remmel über Estland oder Thomas Schmidt-Lux über die DDR.

Dirk Schuster