Niklas Krawinkel: Belastung als Chance. Hans Gmelins politische Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland (= Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust; Bd. 2), Göttingen: Wallstein 2020, 567 S., ISBN 978-3-8353-3677-3, EUR 44,00
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Niklas Krawinkel widmet seine Dissertation einer Person, die politisch in der zweiten, wenn nicht eher der dritten Reihe zu verorten ist: Dem ehemaligen SA-Mann, Volkstumsreferenten an der deutschen Gesandtschaft in Bratislava und nachmaligem Oberbürgermeister von Tübingen Hans Gmelin. Doch obwohl - vielleicht sogar gerade weil - herausragende Prominenz nicht das Kriterium für die Auswahl des zentralen Protagonisten dieser an der Universität Marburg entstandene Promotionsschrift darstellt, handelt es sich um ein bemerkenswertes Buch, denn der Verfasser nutzt den politischen Lebenslauf, um der Diskussion um die Frage, wer wann als Nationalsozialist zu gelten habe eine weitere Facette hinzuzufügen. Dabei verweist er darauf, dass NS-Belastung kein statischer Begriff, sondern Ergebnis von Aushandlungsprozessen in der Öffentlichkeit war (und ist). Damit grenzt sich die Studie von einer primär formalen und damit quantifizierbaren Betrachtung von NS-Mitgliedschaften - dem etwas (über)pointiert so genannte "Nazis zählen" [1] - ab und zielt darauf, im Rahmen einer akteurszentrierten Analyse historisch je spezifische Erfahrungs- und Handlungskontexte und damit Schnittmengen von Täter- und Gesellschaftsgeschichte auszuleuchten. So kann der Verfasser am lokalpolitischen Beispiel aufzeigen, wie und warum Erscheinungsformen des Rassismus aus den NS-Jahren in der jungen Bundesrepublik zunächst weitgehend unbeachtet blieben und sich das Bekenntnis zur Demokratie zunächst eher auf formale Aspekte konzentrierte, aber liberale Überzeugungen und Pluralismus es schwer hatten. Und: Der heftige Widerspruch, den die Kritiker Gmelins erfuhren und ihre Brandmarkung als "undemokratisch" und "taktlos" durch die Gmelin-Verteidiger, ermöglicht zudem auch einen Blick auf die emotionalen Verfasstheiten einer städtischen Nachkriegsgesellschaft, in der NS-Belastung zur Chance werden konnte.
Doch bis das erkannt worden ist - und Gmelin die Ehrenbürgerwürde 2018 posthum aberkannt wurde - war es ein weiter Weg: Gmelin, 1911 geboren und aus bürgerlichem Hause stammend, trat nach einem Jurastudium und Mitgliedschaften in völkisch-rassistischen Vereinigungen der SA und NSDAP bei, durchlief also in vielem den geradezu klassisch zu nennenden Weg jener Kohorten, die als Kriegsjugendgeneration bzw. als Generation des Unbedingten vielfach beschrieben worden sind [2]. Das Jahr 1938 sieht ihn als Kompanieführer im Sudentendeutschen Freikorps, beteiligt an gewalttätigen Ausschreitungen während der Besetzung des sog. Sudetengebiets. Nach verschiedenen Zwischenstationen folgte er 1941 dem Gesandten Hanns Ludin als dessen rechte Hand und Volkstumsreferent an die deutsche Auslandsvertretung in Bratislava. Zu Ende des Krieges für mehrere Jahre interniert, fand er in der jungen Bundesrepublik zunächst erneut als Jurist Verwendung, bevor er 1955 zum Tübinger Oberbürgermeister gewählt wurde; ein Amt, das er bis 1975 innehatte.
Zwar ist das eine oder andere zu den Jahren in der Slowakei, das der Verfasser aus Quellen belegt, auch der einschlägigen Literatur (die der Verfasser gut kennt) zu entnehmen, doch liegt der Ertrag dieser Studie ganz wesentlich in der gekonnten Verknüpfung der Gmelinschen Lebensstränge vor und nach 1945. Lange ist die Geschichte der Bundesrepublik vor allem als Erfolgsgeschichte geschrieben worden, weil sie sich trotz der Einbindung ehemaliger Nationalsozialisten in fast allen gesellschaftlichen Bereichen sukzessive zu einem demokratischen Gemeinwesen entwickelte. Was Niklas Krawinkel dagegen erzählt, ist eine Geschichte der Herausforderungen der inneren Demokratisierung. Er zeigt dabei überzeugend, dass Gmelins NS-Vergangenheit Mitte der 1950er Jahre gerade keine Belastung darstellte, sondern dass sich seine politische Chance aus dem Zusammenwirken von Demokratisierung und einer spezifischen "Vergangenheitspolitik" ergab, machte doch Gmelin mit seiner Kandidatur jenen ein Angebot, die von sich sagten, sie wählten ihn, weil sie aus der Vergangenheit gelernt hätten.
Doch diese Logik hatte ihren Preis: So kann Krawinkel zeigen, dass rassistisches und antisemitisches Gedankengut 1945 nicht verschwand, sondern zusammen mit einem Denken, das auf die Herstellung einer homogenen "Volksgemeinschaft" abzielte, lange virulent blieb. Gemeinschaftspraktiken, mit denen die Einheit der Deutschen diesseits und "jenseits der Oder-Neiße-Linie" beschworen wurden, schlossen direkt an ihre Vorläufer vor 1945 an und waren erneut mit hohem moralischen Druck sowie dem fortgesetzten Ausschluss vermeintlich "Gemeinschaftsfremder" verbunden - wie die Gedenkpraxis etwa bei Volkstrauertagen zeigt, die Veteranen ein-, aber ermordete KZ-Häftlinge oder eine Erinnerung an den Novemberpogrom 1938 ausschloss.
Verantwortlich für die deutsche Teilung war in dieser Lesart allein die Sowjetunion, und Krawinkel zeigt, wie auch im Lokalen bzw. Regionalen die Feindschaft gegen die Sowjetunion, die an einen rassistisch aufgeladenen Antibolschewismus anknüpfte und als ausgeprägter Antikommunismus ein Demokratisierungshindernis in der jungen Bundesrepublik darstellte, den Interessen ehemaliger NS-Funktionäre entsprach: Sie nutzten den Demokratiebegriff gegen einen demokratischen Meinungspluralismus, um ihre Kritiker, nicht nur in den Reihen der KPD, sondern alle Gruppen links der SPD zum Schweigen zu bringen. Doch als "wahrscheinlich größte[s] Versäumnis der Nachkriegsgeschichte" (514) bezeichnet der Verfasser die fehlende Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten des Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Diese führte nicht nur in Gmelins Generation, aber auch darüber hinaus in nicht geringen Teilen der Nachkriegsgesellschaft zu mangelnder Sensibilität - auch zu mangelnder Empathie - und in der Folge zur Hinnahme oder Akzeptanz von ausgrenzender Standpunkten, oft unter Anrufung eines vermeintlich "unpolitischen" überwölbenden (um nicht zu sagen: Gemeinschafts-) Interesses. Zu den Selbstverständlichkeiten vor allem der jungen Bundesrepublik gehörten somit Diskurse des Unpolitischen, die statt gesellschaftliche Gegensätze offenzulegen, diese in vermeintlich natürlichen Gemeinsamkeiten umschlossen. Bedenkt man allein, wie oft bis heute zum Beispiel in den Nachrichten des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens von "Volk" die Rede ist, wo es angemessen wäre, von "Gesellschaft" zu sprechen, zeigt sich der lange Nachhall dessen, was Niklas Krawinkel kundig analysiert hat.
Anmerkungen:
[1] Janos Steuwer: "Zweiundvierzig". Nazis-Zählen als unsinniges Ritual; in: Geschichte der Gegenwart. https://geschichtedergegenwart.ch/zweiundvierzig-nazis-zaehlen-als-unsinniges-ritual-der-vergangenheitsbewaeltigung/ (31.8.2021)
[2] Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996. Michael Wildt: Generation des Unbedingten, Hamburg 2003.
Tatjana Tönsmeyer