Michail Grazianskij: Kaiser Justinian und das Erbe des Konzils von Chalkedon (= Altertumswissenschaftliches Kolloquium; Bd. 30), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 317 S., ISBN 978-3-515-08842-8, EUR 58,00
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Michail Grazianskijs Kaiser Justinian und das Erbe des Konzils von Chalkedon, Stuttgart 2021 stellt eine deutlich erweiterte, aber lediglich marginal überarbeitete Version seiner Jenaer Dissertation Die Politik Kaiser Justinians I. gegenüber den Monophysiten von 2005 dar. Der Fließtext auf den Seiten 119-287 des vorliegenden Buches ist bis auf wenige terminologische Änderungen (z.B. jetzt "antichalkedonisch" statt "monophysitisch"), Fußnoten, 30 kleinere Ergänzungen (meist ein halber Paragraf, manchmal nur ein Satz, selten ein längerer Paragraf (so 272-73) oder mehr (so 174f.)), eine Kürzung, eine Modifikation und eine substantielle Ergänzung (230-235) deckungsgleich mit dem Text der Dissertation. Die überraschende Nichteinarbeitung der neueren Forschung kann auch nicht durch einen aktuellen fast 50-seitigen Forschungsabriss (19-68) wettgemacht werden.
Kapitel 1 (69-118) zu "Kirchenpolitische Entwicklungen von dem Ende des Konzils von Chalkedon (451) bis zum Anfang des Aufstandes von Vitalian (513)" ist ein nach 2005 entstandenes Kapitel, das die historischen Hintergründe und Entwicklungen beleuchtet, die zur chalkedonischen Wende im Jahre 518 führten. Kapitel 2 "Die Vorbereitung der prochalkedonischen Wende" (119-148) beginnt mit dem Aufstand Vitalians, der Bildung einer prochalkedonischen Gruppe am kaiserlichen Hof und kirchenpolitischen Analysen zu den wichtigsten Akteuren. Die Nachfolge des Anastasius und die Versöhnung mit Rom werden kurz abgehandelt bevor Grazianskij eine Periodisierung der Religionspolitik Justinians vorschlägt, obwohl er diese Politik ansonsten noch gar nicht vorgestellt hat. Eine Einarbeitung der Anastasius-Büchern von Fiona Haarer (2006) und Mischa Meier (2009) wie auch weiterer neuerer Literatur unterbleibt.
In Kapitel 3 "Die Rolle Theodoras in der Religionspolitik Justinians" (149-168) setzt sich Grazianskij kritisch mit den Quellen auseinander und legt überzeugend die "Zweideutigkeit der Stellung Theodoras" für die kaiserliche Religionspolitik dar (166). Allerdings irritiert auch hier, dass Grazianskij einleitend (149-154) einen veralteten Forschungsstand präsentiert, z.B. Diehl (1901) und Rubin (1960) ausführlich zitiert und seinen Forschungsüberblick mit Bridges Theodora-Buch (1978/dt. Übersetzung 1980) beendet. Der Überblick wird dem neueren Forschungsstand zu Theodora in keiner Weise gerecht, aber selbst die Forschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts wird nicht adäquat wiedergegeben, da neben Aufsätzen von Clive Foss und Charles Pazdernik z.B. auch ein so kluges Theodora-Buch wie das von Hans-Georg Beck von 1986 fehlt.
Kapitel 4 "Die Religionspolitik Justinians in den Jahren 532-536" (169-194) beginnt mit dem Religionsgespräch des Jahres 532 und Grazianskij hält richtigerweise fest, dass der Kaiser hier Kompromissvorschläge aufzeigte, die seine Religionspolitik der nächsten zwanzig Jahre prägen sollten (170). Grazianskij diskutiert, wie Justinian auf theopaschitischer Grundlage mit den Nichtchalkedoniern verhandelte, aber gleichzeitig bemüht war, den Papst mit ins Boot zu holen. In der klugen Quellenanalyse, wie und warum die Versöhnung nach der Ankunft von Papst Agapetus in Konstantinopel scheiterte, stört wiederum die fehlende Überarbeitung inklusive Auseinandersetzung mit der nach 2005 erschienenen Literatur.
Bei den nachfolgenden zwei Kapiteln überrascht die Schwerpunktsetzung: während Kapitel 6 "Der Dreikapitelstreit (540-553)" (252-269) sehr komprimiert und z.T. fast stichwortartig die Verurteilung der Drei Kapitel und die Auswirkung dieser Verurteilungen auf die kaiserliche Versöhnungspolitik mit den Nichtchalkedoniern festhält, widmet sich Kapitel 5 ("Die kaiserliche Religionspolitik in den Jahren nach dem Konzil von 536 und der Übergang zum Dreikapitelstreit") auf über 50 Seiten (195-251) dem Weg dorthin sehr ausführlich. Für die meisten seiner Ausführungen hier hat Grazianskij allerdings gute Gründe, denn die christologischen Probleme sind diffizil und die Affäre um Papst Silverius schwierig zu durchschauen. Ein besonderer Fokus liegt dann auf den kaiserlichen Missionsunternehmungen, aber dass allein die Nubienmission substantielle Überarbeitung und Erweiterung nach 2005 erfahren hat, erklärt sich wohl eher aus der Tatsache, dass der Autor dazu in der Zwischenzeit publiziert hat als aus der Zentralität Nubiens für die kaiserliche Religionspolitik. Eine Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur nach 2005 findet ansonsten auch in diesem Kapitel nur in den Fußnoten und selbst hier lediglich in homöopathischen Dosen statt. Im letzten Kapitel "Die Religionspolitik nach der Verurteilung der Drei Kapitel (553-565)" (270-287) plädiert der Autor für einen "melkitischen Antichalkedonismus", den Grazianskij durchaus schlüssig auf den Argumenten seiner zwei vorangehenden Kapitel aufbaut, der aber aufgrund fehlender Auseinandersetzung mit relevanter Forschungsliteratur (z.B. Yonatan Moss, Incorruptible Bodies. Christology, Society and Authority in Late Antiquity (2015)) wenig aussagekräftig bleibt.
Insgesamt enttäuscht Grazianskijs Buch, denn trotz origineller und kluger Forschungsansätze sowie exzellenter Quellenkenntnis bleibt der Eindruck eines überhastet publizierten Buches - ein Konglomerat von Kapiteln auf unterschiedlichen Forschungsständen und verbesserungswürdigem Lektorat. [1] Selbst in den teilweise aktualisierten Fußnoten offenbaren sich gravierende Lücken, [2] so dass es nicht einer unfreiwilligen Komik entbehrt, wenn Grazianskij fälschlich insinuiert, Patrick Brimioulle hätte in seinem 2020 erschienenen Buch Das Konzil von Konstantinopel 536 wissenschaftlich unsauber gearbeitet. Anstatt Brimioulle vorzuwerfen (149 fn.1 - siehe auch 67f.), er zitiere Grazianskijs unpublizierte Dissertation von 2005 nicht (obwohl er sie kenne) und würde die aktuelle Forschungsliteratur ignorieren, hätte umgekehrt Grazianskijs eigene Darstellung fraglos davon profitiert, wenn er Brimioulles Forschungsstand inklusive der inzwischen publizierten (und von Brimioulle auch zitierten) Literatur zur Kenntnis genommen hätte.
Anmerkungen:
[1] Schon bei kursorischer Lektüre fallen vermeidbare Fehler ins Auge: z.B. S. 57-59: "Eregnisse" statt "Ereignisse"; "V. Menze zufolge zweifelt H. Leppin die alte These an" muss wohl heißen: "V. Menze folgend zweifelt H. Leppin die alte These an", "Drekapitelstreites" statt "Dreikapitelstreites", "Enscheidungen" statt "Entscheidungen", "Jakan Baradai" statt "Jakob Baradai", "Gleichzeifig" statt "Gleichzeitig", "die sich in der Durchführung" statt "die in der Durchführung". Diese drei Seiten mögen nicht repräsentativ sein, untermauern aber den Eindruck, dass gerade die Überarbeitung unter großem Zeitdruck entstanden ist.
[2] Um nur einige Bücher zu nennen, die nicht nur im Text fehlen, sondern dem Autor gänzlich unbekannt zu sein scheinen: Frédéric Alp: La Route Royale. Sévère d'Antioche et les Églises d'Orient (512-518), Beirut 2009; David Potter: Theodora. Actress, Empress, Saint, New York 2015; Rene Pfeilschifter: Der Kaiser und Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole, Berlin 2013. Volker Menze / Kutlu Akalin: John of Tella's Profession of Faith. The Legacy of a Syrian Orthodox Bishop, Piscataway 2009; Peter Bell: Social Conflict in the Age of Justinian. Its Nature, Management, and Mediation, Oxford 2013; Susan Ashbrook Harvey: Asceticism and Society in Crisis. John of Ephesus and the Lives of the Eastern Saints, Berkeley / Los Angeles / London 1990; Jeanne Nicole Mellon Saint Laurent: Missionary Stories and the Formation of the Syriac Churches, Oakland 2015.
Volker Menze