Anja Werner / Christian König / Jan Jeskow u.a.: Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR, 1983-1990, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, 256 S., zahl. Abb., 11 Tbl., eine CD-ROM, ISBN 978-3-96023-038-0, EUR 24,90
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Seit 1961 ließen Pharmaunternehmen westlicher Länder sowie internationale Organisationen in der DDR an ausgewählten Patientinnen und Patienten Arzneimittel testen. In der medizinhistorischen Forschung wird davon ausgegangen, dass von 1983 bis 1990 an Universitätskliniken, medizinischen Akademien, Krankenhäusern sowie außeruniversitären Forschungseinrichtungen an über 16.000 Probandinnen und Probanden klinische Prüfungen durchgeführt wurden. Die Arzneimittelstudien wurden gleichzeitig auch in der Bundesrepublik sowie im europäischen und auch außereuropäischen Ausland betrieben (Multicenterstudien).
Schon bald nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zog man Rechtmäßigkeit und ethische Legitimität dieser klinischen Testreihen in der DDR in Zweifel. Die Missachtung international anerkannter ethischer Prinzipien sowie fachlicher Standards wurde unterstellt und hinter einer Genehmigung und Umsetzung klinischer Prüfungen durch Einrichtungen der DDR wurden vorwiegend ökonomische Interessen vermutet. In Reaktion darauf setzte die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit 1991 eine Untersuchungskommission ein, die zu dem Ergebnis kam, dass in der DDR "keine grundlegend anderen Maßstäbe oder Vorgehensweisen" angewandt worden seien, "als in der alten Bundesrepublik" [1]. Aus Mangel an Dokumenten konnte jedoch nicht geklärt werden, inwieweit die Probandinnen und Probanden bzw. deren gesetzliche Vertreter ausreichend über die Versuchsreihen aufgeklärt worden waren und ob bzw. welche gesundheitlichen Nebenwirkungen durch die geprüften Arzneimittel bei den Probandinnen und Probanden aufgetreten sind.
Die 2013 erneut vorgebrachten Vorwürfe führten dazu, dass verschiedene Universitätskliniken zur Klärung des Sachverhalts Forschungsprojekte initiierten, darunter, neben der Charité, auch das Universitätsklinikum Jena, das eine Forschungsgruppe aus Mitgliedern der Universitäten Jena, Halle-Wittenberg und Leipzig einsetzte. Die vorliegende Studie stellt die Ergebnisse dieser Untersuchung zur Verfügung.
Zur Klärung der Fragestellung, inwieweit "klinische Auftragsprüfungen westlicher Pharmaunternehmen in der DDR normgerecht durchgeführt" und die "gesetzlichen Vorgaben zur Wahrung der Rechte und des Schutzes von Probanden in der Praxis umgesetzt" worden seien (11), wurden fünf exemplarische Arzneimittelprüfungen ausgewählt: die Studien zum synthetischen Wachstumshormon Saizen, zur "Abtreibungspille" Mifepriston, dessen pharmakologische Prüfung von der WHO in Auftrag gegeben worden war, zum Betablocker Timolol und zu den Asthmamedikamenten Zaditen und Cromolyn. Mit Ausnahme von Mifepriston wurden die genannten Medikamente, soweit ihre Prüfung vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik abgeschlossen war, auch in der DDR zugelassen. Einige Testreihen liefen über diesen Zeitpunkt weiter.
Die Studie basiert auf Archivalien von Behörden und politischen Institutionen (Aktenbestände in Bundesarchiv, BStU, WHO), Studienprotokolle aus DDR-Prüfzentren, Patientenakten aus dem Zentralarchiv des Universitätsklinikums Leipzig sowie der medizinischen Fakultät derselben Universität und Interviews mit Prüfleitern aus der DDR und der Bundesrepublik. Unterlagen der auftraggebenden Pharmafirmen sahen die Forschungsgruppen nicht ein, sie interviewten auch keine Probandinnen oder Probanden.
In vier Kapiteln werden am Beispiel jeweils eines der genannten pharmazeutischen Produkte anhand eines wiederkehrenden Fragenkatalogs die strukturellen, rechtlichen sowie ethischen Rahmenbedingungen der klinischen Prüfung des genannten Medikamentes in der DDR vorgestellt sowie jeweils einer der in den einleitenden Kapiteln genannten Punkte als übergeordnete Frage intensiver beleuchtet.
Wiederkehrend wird nach der Einhaltung medizinethischer Standards und gemäß dem Auftrag nach einem "normgerechten" Verhalten gefragt. Als "normgerecht" verstehen die Autorin und Autoren ein Vorgehen, das sich an den Vorgaben der 1964 vom Weltärztebund verabschiedeten und mehrfach überarbeiteten Deklaration von Helsinki für allgemeine ethische Standards für ärztliches Handeln, insbesondere in der Forschung, orientiert. Vor dem Hintergrund, dass das Gesundheitswesen in der DDR in staatlicher Verantwortung lag, zentralistisch organisiert war und die politischen Vorgaben vom Ministerium für Gesundheitswesen ausgingen, mussten alle Arzneimittelfirmen, die in der DDR Arzneimittelstudien durchführen wollten, ein klar definiertes Verfahren durchlaufen, bevor sie von den vom Gesundheitsministerium eingesetzten Instanzen hierfür eine Genehmigung erhielten. Als zentrale Ansprechstelle und schließlich auch Vertragspartner für Aspiranten und Auftraggeber fungierte das Beratungsbüro für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse. Die vom Beratungsbüro entgegengenommenen Anträge prüfte der Zentrale Gutachterausschuss für Arzneimittelverkehr.
Als Vertragspartner für die finanzielle Abwicklung trat die Berliner Import-Export GmbH auf, die einen Teil der Einnahmen an die Zentralen Exportbüros der in die Prüfungen involvierten Ministerien (Gesundheit, Hoch- und Fachschulwesen) sowie an außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, wie die Akademie der Wissenschaften, weiterleitete. Im Ergebnis habe diese Organisationsform verhindert, dass sich ökonomische Interessen mit fachlichen überlagerten. So wurden in den 1980er Jahren, auch wenn das Gesundheitswesen der DDR unterfinanziert war, pro Jahr ca. 15 bis 20 Prozent der Prüfangebote abgelehnt.
Insgesamt kommen die Autorin und Autoren zu dem Ergebnis, dass "keine systematische Missachtung ethischer Standards und juristischer Normen im Rahmen der klinischen Auftragsprüfungen in der DDR" nachgewiesen werden konnte (166). Die in die Arzneimittelprüfungen involvierten und untersuchten Kliniken, Krankenhäuser und Forschungseinrichtungen in der DDR seien in den 1980er Jahren in ein internationales Netzwerk für klinische Prüfungen eingebunden gewesen. Die Prüfunterlagen seien von den Auftraggebern vorbereitet worden und hätten sich an den in der DDR geltenden gesetzlichen Bestimmungen und Probandenrechten orientiert. Von beiden Vertragspartnern seien die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten worden. Die Probandinnen und Probanden hätten den pharmakologischen Tests zugestimmt und die bedingungslose Möglichkeit gehabt, jederzeit ihre Teilnahme zu beenden.
Allerdings seien diese nach vorangehender Information erfolgten Einwilligungen nicht für alle Prüfreihen in den Quellen dokumentiert. Die gesetzlichen Bestimmungen seien "eingehalten" und im Fall Saizen "sogar noch übertroffen" worden, indem "schriftliche Einverständniserklärungen ausgefertigt wurden, die nach DDR-Recht nicht vorgeschrieben waren". In der Bewertung der Prüfung von Saizen kommen die Autorin und Autoren zu dem Ergebnis, dass "eine nachweisbare ethisch normgerechte Durchführung der klinischen Prüfungen [...] letztlich eine Voraussetzung für die erfolgreiche Zulassung des Medikaments in westlichen Ländern" gebildet habe (86).
Die Autorin und die Autoren vermögen darzulegen, dass die untersuchten Arzneimitteltests in Forschungen zur Weiterentwicklung von Therapien, zu denen an verschiedenen Forschungseinrichtungen der DDR sowie in internationalen Projekten, teilweise in Zusammenarbeit mit westlichen Pharmafirmen, gearbeitet wurde, integriert waren. Persönliche Kontakte zwischen Ärzten und Wissenschaftlern verschiedener Forschungseinrichtungen und Pharmafirmen waren hier von Bedeutung. Von dieser Zusammenarbeit profitierten die Pharmafirmen, da sich für sie die Möglichkeiten eines Prüfverfahrens im deutschsprachigen Raum eröffnete, wie auch die Mediziner, die durch die Arzneimittelprüfungen in weitere Forschungen eingebunden wurden und dadurch Zugang zu neuen Therapien und kostenlosen Medikamenten erhielten, sowie die Patientinnen und Patienten, die große Erwartungen an neue Medikamente, und solche westlicher Hersteller knüpften. Ziel der Zusammenarbeit von Ärzten mit "staatlichen Stellen in der DDR" in Fragen der Prüfungen war für diese der Wunsch nach "Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung von DDR-Patienten mit Arzneimitteln trotz der wirtschaftlichen Krisenlage des Landes" (86). Den westlichen Pharmaunternehmen haben sich über die klinischen Prüfungen in der DDR neue Absatzmärkte für ihre Produkte über die DDR hinaus in Staaten des Ostblocks eröffnet. Schließlich haben sie die "Qualität" der klinischen Prüfungen geschätzt.
Durch die Auswertung zahlreicher Quellen können die Autorin und Autoren ihre Annahme, "dass klinische Auftragsprüfungen eine Form der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Kooperation über den Eisernen Vorhang hinweg" gewesen seien, belegen. Im Ergebnis stellen sie fest: "Eine Vielzahl von Interessen in West und Ost trafen bei klinischen Auftragsprüfungen zusammen, die nicht losgelöst voneinander betrachtet werden sollten. [...] Klinische Auftragsprüfungen westlicher Pharmaunternehmen waren eine Folge der Internationalisierung und Globalisierung der Pharmaindustrie und des Arzneimittelmarktes. Unsere Einzelfallanalysen zeigen [...], dass nicht nur westliche Privatunternehmen und Kapitalgesellschaften medizinisch-wissenschaftliche Dienstleistungen der DDR in Anspruch nahmen, sondern auch internationale Organisationen." (14f.)
Eine weitergehende historische Kontextualisierung hätte der Publikation gutgetan. Der Text erweckt den Eindruck, als seien auf der Grundlage eines Fragenkataloges Studien zu einzelnen Prüfverfahren erarbeitet worden, denen dann übergeordnete Fragen zugeordnet wurden. Der Lesbarkeit hätte geholfen, wenn diese Texte nicht nur zusammengestellt, sondern systematisch zusammengefügt worden wären, was auch manche Redundanzen beseitigt und gegebenenfalls gegensätzliche Interpretationen vermieden hätte. Die Autorin und Autoren gehen von Annahmen aus, die nicht offengelegt und mit eigenen Erkenntnissen konfrontiert werden. Die Frage, welchen Einfluss der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 auf die damals noch laufenden Arzneimittelprüfungen hatte, wird nicht problematisiert. Im Wesentlichen werden die Ergebnisse bereits vorliegender Studien bestätigt.
Anmerkung:
[1] Arzneimittelprüfungen in Ost-Berlin. Bericht der Untersuchungskommission, in: Berliner Ärzte 10 (1991), 16-19; Ärztekammer Berlin (Hg.): Die Charité zum Sprechen gebracht - Eine zeitgeschichtliche Dokumentation, bearbeitet v. Rosemarie Stein, Berlin 1992.
Sabine Schleiermacher