Rezension über:

Thomas Must / Martin Buchsteiner (Hgg.): Haptische Zugriffe auf Gegenstände - eine Chance für historisches Lernen? Fachwissenschaftliche, fachdidaktische und pädagogische Impulse, Münster: Waxmann 2021, 180 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-4163-7, EUR 29,90
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Rezension von:
Johanna Sachse
Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Johanna Sachse: Rezension von: Thomas Must / Martin Buchsteiner (Hgg.): Haptische Zugriffe auf Gegenstände - eine Chance für historisches Lernen? Fachwissenschaftliche, fachdidaktische und pädagogische Impulse, Münster: Waxmann 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/35657.html


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Thomas Must / Martin Buchsteiner (Hgg.): Haptische Zugriffe auf Gegenstände - eine Chance für historisches Lernen?

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Objekte besitzen bei der wissenschaftlichen Erforschung der Vergangenheit neben zum Beispiel Text- und Bildquellen eine unbestreitbare Relevanz. Im Rahmen didaktischer Vermittlung von historischen Ereignissen spielen sie jedoch viel zu oft eine untergeordnete Rolle. [1] Während in Museen die authentischen Gegenstände aus konservatorischen Gründen üblicherweise ausschließlich hinter Glas zu betrachten sind, kommen sie im schulischen Bereich auch aufgrund der fehlenden Einbettung in die Lehrpläne beziehungsweise Curricula nur in Ausnahmefällen vor. Dabei kann die haptische Ebene einen ganz neuen Zugang für das historische Lernen eröffnen. Welche Potenziale dieses (Be-)Greifen von Gegenständen in unterschiedlichen (außer-)schulischen Kontexten bietet und welche Settings hierfür sinnvoll sein könnten, stellt der vorliegende Sammelband vor.

In ihrem einleitenden Kapitel beschreiben die beiden Herausgeber Thomas Must und Martin Buchsteiner mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand gleich zu Beginn eine Reihe von Vorteilen, die der (haptische) Kontakt mit Sachquellen vereine (8-9). Gleichzeitig zeigen sie aber auch auf, warum dieser nur selten bis gar nicht im gängigen Schulunterricht zu finden ist, infolgedessen sie die vorhandenen Forschungsdesiderate im empirischen, theoretisch-konzeptionellen sowie praktischen Bereich sehen (9). Hier wird deutlich, dass die Erforschung haptischer Zugänge noch große Lücken aufweist, wobei der Sammelband zu den genannten Punkten "Anregungen" (11) zu liefern versucht.

Der erste Teil widmet sich der Relevanz haptischer Zugänge in Bezug auf historische Themen im wissenschaftlichen sowie musealen wissensvermittelnden Bereich. Dabei gibt Thomas Lessig-Weller in seinem Beitrag einen guten Überblick über die einzelnen Teilbereiche der Methode der Experimentellen Archäologie mit ihren Chancen und Grenzen bei der Erforschung geschichtlicher Phänomene und bei der methodischen Umsetzung mit Schulklassen (23-25). Auch seine Kritik, dass leider sehr häufig museale Angebote das Label "Experimentelle Archäologie" tragen, obwohl es sich nicht um eine empirisch fundierte Vorgehensweise handelt (21), ist durchaus berechtigt, weil der Begriff als Umschreibung für Angebote mit abenteuerlichem Charakter teils inflationär verwendet wurde. [2] Die weiteren zwei Beiträge geben einen guten Einblick in die Sichtweise von Museumspädagog*innen bei der Gestaltung haptisch erlebbarer Angebote. Zum einen berichten Marianne Hilke und Stephan Quick vom Archäologischen Park Xanten / RömerMuseum des Landschaftsverbandes Rheinland von dortigen pädagogischen Programmen, bei denen der Fokus auf die Handlungsorientierung und Selbsttätigkeit im Sinne des körperlichen Nachvollziehens menschlichen Handelns in der Vergangenheit gelegt wird. Zum anderen präsentiert Anna Riethus den Stand ihres aktuellen Projekts im Neanderthal Museum, bei dem ein inklusiver Rundgang entwickelt sowie evaluiert wurde. In diesem sollen Bedürfnisse von Menschen mit und ohne Sehbeeinträchtigung berücksichtigt werden, wobei die haptische Komponente eine zentrale Rolle spielt. Die Autor*innen der beiden Beiträge versuchen mit ihren Projektideen, dem von ihnen konstatierten Problem, dass der haptischen Erfahrung im musealen Bereich zu wenig Raum gegeben werde (47), entgegenzuwirken.

Im zweiten Teil des Bandes stehen geschichtsdidaktische Aspekte im Fokus. Zu Beginn definiert Jan Scheller den Begriff des im Zentrum des Werkes stehenden wortwörtlichen (historischen) Gegenstands auf einer allgemeinen Ebene nachvollziehbar, da in der geschichtsdidaktischen Literatur keine einheitliche Definition zu finden ist (66). Anschließend erfolgt eine geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit dem Medium im Geschichtsunterricht, was sowohl die Spezifik als auch die Potenziale für das historische Lernen sowie den methodischen Umgang betrifft (69-73). Letztendlich zieht der Autor ein positives Fazit und schreibt: "Zusammenfassend dienen Gegenstände im Geschichtsunterricht genauso der Förderung historischen Denkens wie andere Gegenstände" (72). Martin Buchsteiner plädiert in seinem Beitrag dafür, den Umgang mit historischen Gegenständen nicht automatisch mit einer Handlungsorientierung in Verbindung zu bringen (86), sondern vielmehr die bei den Schüler*innen anzubahnende Denkoperation in den Mittelpunkt zu stellen und diese - sofern sinnvoll - mit handlungsorientierten Methoden zu erreichen (88). Thomas Must nimmt eine methodische Perspektive ein, wenn er verschiedene Zugriffe auf historische Objekte (Anfassen, Ausprobieren, Anfertigen; 94) voneinander abgrenzt und die Unterschiede an passenden Beispielen deutlich werden lässt. Er merkt jedoch gleichzeitig an, dass Schüler*innen durch diese Herangehensweisen zwar realitätsnahe, aber nicht zwangsläufig historische Erfahrungen machen können (95). Hannah Röttele stellt, den geschichtsdidaktischen Teil abschließend, die Relevanz der Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt heraus.

Im letzten Teil des Sammelbandes wird der Blick auf eine multidisziplinäre Ebene gelenkt. Hier werden Ideen ausgeführt, inwiefern im Schulalltag unterschiedliche Disziplinen bei der Erforschung von Objekten sinnvoll zum Einsatz kommen können, die nicht nur der historisch-epistemologischen Methode angehören. Dabei stellt Jörg van Norden weiterführend die These auf, dass (historische) Gegenstände nur dann historisches Lernen initiieren können, wenn diese für die Schüler*innen zu einem gewissen Grad einen Wiedererkennungswert in ihrer Lebenswelt besitzen (151). Das von Mathias Möller und Thomas Must vorgestellte Projekt für den Sachunterricht einer Grundschule zu Präkonzepten über eine mittelalterliche Mauer ist sehr gelungen und zeigt anhand empirischer Daten, wie ein naturwissenschaftsdidaktisches Modell von Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Lernprozessen bei Kindern auf geschichtliche Themen übertragen werden kann (162-166).

Der Beitrag von Annette Wick-Proske schließt den Band mit dem Appell, bei den Schüler*innen wieder vermehrt ein Bewusstsein für den Eigenwert verschiedener Materialien zu fördern, um damit einen Gegenpol zum rationalisierten Schulalltag zu schaffen (175f.). Auffällig ist das Fazit der Autorin, wenn sie mit einer starken Wortwahl kritisiert: "Sinnorientierte Methoden werden meist instrumentalisiert eingesetzt im Sinne eines nachhaltigen Lernens und nicht, um ausschließlich die Sinne anzusprechen und zu bereichern [...]" (177). Mit Blick auf die vorangehenden Beiträge, die allesamt die positiven Effekte des Einsatzes haptischer Elemente für das (historische) Lernen fokussieren, steht diese Aussage im Widerspruch, sodass diese Ausführungen nicht unbedingt mit dem eigentlichen Anliegen des Sammelbandes kohärent sind.

Insgesamt zeichnet sich der Sammelband darin aus, Überlegungen auf theoretischer Ebene anzustellen und diese auch stets an gelungenen konkreten Praxisbeispielen deutlich werden zu lassen. Dadurch liefert er Geschichtsdidaktiker*innen oder Museumspädagog*innen genauso Impulse wie interessierten Lehrkräften, schließlich ist die letzte umfangreiche Publikation zu dem Thema schon über 10 Jahre alt. [3] Zudem ist die Berücksichtigung von Objekten aus einem breiten Spektrum an historischen Epochen in den verschiedenen Beiträgen positiv zu vermerken. Der Blick auf die Forschungslandschaft verrät, dass es beim Einsatz von (historischen) Gegenständen und ihrer Haptik noch einen großen Bedarf an Beiträgen gibt, die die attestierten Potenziale weiter ausführen und erforschen. Der vorliegende Sammelband bildet hierfür einen guten weiteren Baustein.


Anmerkungen:

[1] Vergleiche Andrea Brait: "Sachquellen, ja, die gehen etwas unter". Zu den Potentialen einer Quellengattung und den Gründen, die ihren Einsatz im Geschichtsunterricht verhindern, in: Historisches Lernen und materielle Kultur. Von Dingen und Objekten in der Geschichtsdidaktik, hgg. von Sebastian Barsch / Jörg van Norden, Bielefeld 2020, 137-155, hier: 141; vergleiche Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, Seelze 2013, S. 203; vergleiche Gerhard Schneider: Gegenständliche Quelle, in: Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, hgg. von Hans-Jürgen Pandel  / Gerhard Schneider, Schwalbach / Ts. 2011, 541-556, hier: 541.

[2] Vergleiche unter anderem Claudia Pingel: Experimentelle Archäologie und/oder Archäotechnik? Ein kleiner Leitfaden zu handlungsorientierten Angeboten und Anbietenden, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63, 3-4 (2012), 214-221, hier 214, 220.

[3] Vergleiche Thorsten Heese: Vergangenheit "begreifen". Die gegenständliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach / Ts. 2007.

Johanna Sachse