Moritz Csáky: Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region, Wien: Böhlau 2019, 392 S., ISBN 978-3-205-20877-8, EUR 50,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Eingehend setzt sich der renommierte österreichische Kulturhistoriker Moritz Csáky in seiner aktuellen Monografie mit kulturtheoretischen Forschungsansätzen auseinander, an deren Etablierung er seit den frühen 1980er Jahren maßgeblich mitwirkt. Als entscheidender Wegbereiter postkolonialer, ergo inter- sowie transdisziplinärer Perspektiven auf den plurikulturellen und multinationalen Raum "Zentraleuropa" macht Csáky auf diese Weise die Relevanz und Fruchtbarkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit für die Geschichts- und Kulturwissenschaften einmal mehr sichtbar. So lässt sich das vorliegende Werk als Kumulation seiner vorangegangenen, viel zitierten Studien über Raumkonzepte, interkulturelle Kommunikation, Semiotik, kollektive Gedächtnisse und Erinnerungskulturen lesen.
Schon vor gut einem Jahrzehnt gab Csáky zu verstehen [1], dass er mit der Hinterfragung kulturell bedingter geografischer Einheiten die Re-Definition traditioneller Wissenschaftsdisziplinen beabsichtigt. In seinem neuesten Werk rückt er allerdings nicht die urbanen Milieus, sondern stärker noch Zentraleuropa als Entität ins Blickfeld. Da er das jeweilige Gesamtstaatsbewusstsein namhafter Literat*innen und Denker*innen des 20. Jahrhundert in Bezug auf das späte Habsburgerreich präsentiert, sind seine Ausführungen vor allem für die neuere Imperienforschung interessant. Durch kulturwissenschaftliche Analysen der facettenreichen Beobachtungen und Überlegungen in den (literarischen, journalistischen, autobiografischen) Berichten der besagten Zeitzeug*innen arbeitet Csáky im Hauptteil unterschiedliche Wahrnehmungsformen vom imperialen Einheitsstaat heraus, die aufzeigen sollen, inwiefern Europa bis heute als ein zusammenhängender Kommunikationsraum gedacht werden kann. Dabei sieht Csáky im Offenlegen der sozialen, kulturellen und historischen Mehrfachcodierung dieser Region eine Chance, Differenzen und Heterogenitäten als etwas Einendes anstatt Spaltendes zu verstehen.
Bevor er mittels hermeneutischer Textanalyse erörtert, wie und womit Zusammengehörigkeitsgefühle in der Habsburgermonarchie ab 1900 evoziert worden sind, gibt der Verfasser den Leser*innen das hierfür nötige theoretische Rüstzeug an die Hand. Unter Heranziehung mehrerer anschaulicher Beispiele bekräftigt Csáky seine Gedankengänge auf über 110 Seiten in extenso, wodurch der Titelzusatz "Eine Einführung" in Kapitel I ungerechtfertigt erscheint. Eine konzisere Einleitung hätte dem Einstieg in das Werk zwar mehr Stringenz verliehen, aber sicherlich auch die Entstehung der empirisch fundierten Theorie weniger gut nachvollziehbar gemacht. Wer mit Csákys Thesen vertraut ist, weiß, dass er unter deutschsprachigen Historiografen seit langem (vergeblich) dafür plädiert, mit dem geografischen, politisch neutralen Begriff "Zentraleuropa" zu operieren. Redundant sind daher seine ausführlichen Erläuterungen, aus welchen Gründen sich dieser Terminus besser eigne als der ideologisch vorbelastete Begriff "Mitteleuropa". Daran aber, dass der Verfasser selbst nicht vor dem Gebrauch politisch konnotierter Begriffe wie "zaristisch" (39, 319) gefeit ist, zeigt sich, dass eine wiederholte Auseinandersetzung mit gängiger Fachterminologie durchaus angebracht ist, um den Mechanismen von Kultursemiotik und mental mapping auf die Spur zu kommen. Csáky lenkt den Blick auf die Vielstimmigkeit, Performativität und Fragilität von kollektivem Raumbewusstsein: "Raum wird dementsprechend als ein 'rationaler Raum' vorgestellt, der erst durch individuelle Vorstellungen von wechselseitigen Beziehungen beziehungsweise von Zusammenhängen, durch gesellschaftliche Aushandlungen also und symbolische Codierungen jeweils eine unterschiedliche Gestalt annehmen kann und somit auch immer wieder umschrieben werden will" (34). In der Tradition des spatial turns erklärt der Verfasser Zentraleuropa folglich zum hybriden "Dritten Raum" (35, 51-53), das heißt zum "Resultat von performativen kommunikativen kulturellen Praktiken, mit denen man diesen Raum 'kognitiv' zu umschreiben, zu definieren und sich verständlich zu machen versucht" (37). Die historisch-politisch abgesteckten Grenzen des ehemaligen Habsburgerreiches könnten schließlich als reale Konkretisierung eines solchen Raumes gelten, da hier verschiedene Kulturen und Völker von "hybriden Identitäten" als Einheit imaginiert worden seien (38-80).
Ausgehend von einem offenen, fluiden Kulturbegriff, stellt sich Csáky gegen eine "in sich geschlossene, holistische, essentialistische Vorstellung von Kultur als einer homogenen 'Containerkultur'" (58) und somit gegen die Behauptung der Existenz einer kohärenten Nationalkultur, die fälschlicherweise Sprache zum Primärmerkmal der Zusammengehörigkeit deklariere (78, 100). Folgt man den Ausführungen des Kulturhistorikers, so kann das um 1900 herrschende Gesamtstaatsbewusstsein in der Habsburgermonarchie nur dann richtig erfasst werden, wenn man erkennt, dass es sich aus unterschiedlichen, untereinander konkurrierenden und ineinander verwobenen Erinnerungsmodi und Gedächtnisinhalten zusammensetzte, wobei "Grenz- und Schwellenländer für kulturelle Transfer- und Translationsprozesse" (321) eine besondere Relevanz besaßen.
Um dieses Gedächtnis-Konglomerat besser greifbar zu machen, wendet sich Csáky in den Kapiteln II bis V den zentraleuropäischen Vorstellungswelten Franz Kafkas, Hermann Bahrs, Joseph Roths und Miroslav Krležas in Einzelstudien zu. Dabei beleuchtet der Verfasser nicht nur die parallel erschlossenen Erfahrungshorizonte dieser vier Angehörigen der imperialen Deutungselite anhand von ausgewählten Texten. Er arbeitet ebenso die je eigenen Schwerpunkte heraus (Mehrdeutigkeiten und Verunsicherungen, slawische Dominanz, innere Kolonisierung und Hybridität), an denen sich die Äußerungen jener berühmten Denker über den österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat vorwiegend ausrichteten. Zur besseren Einordung der präsentierten Stimmen wären kurze biografische Abrisse hilfreich gewesen, selbst wenn der Verfasser sich für die strikte Trennung von Autor und Text aussprechen mag. In den anschließenden zwei Kapiteln VI und VII wird ohnehin vom Gliederungsprinzip abgewichen, indem nicht mehr die Aussagen eines Autors zum Anlass weiterführender Überlegungen genommen, sondern vielmehr die Aspekte "Mehrsprachigkeit" und "Fremdheiten" an vielen verschiedenen Textbeispielen von den erwähnten und anderen Personen erörtert werden. Hier weist die Studie strukturelle Schwächen auf, denn der in Kapitel VII eingeschobene Exkurs über "Religiöse Vielfalt und Heterogenität" reißt leider ein viel zu großes Themenfeld an, um auf nur fünf Seiten behandelt werden zu können. Auch die Einbindung der (einzigen) weiblichen Stimme von Wilma von Vukelich findet sehr überraschend, ohne Kontextualisierung statt. Außerdem erscheinen der Sprung in die Gegenwartsgeschichte und die Überlegungen zum aktuellen Europabegriff im Kontext globaler Prozesse im letzten Kapitel etwas abrupt und knapp.
Statt einer Schlussbetrachtung liefert Csáky mit Kapitel VIII einen Ausblick darüber, inwiefern man "Zentraleuropa zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchung und eines analytischen Verfahrens" (319) machen kann. Er hält fest, dass es sich hierbei um "ein praktikables Modell [...], mit dem man [...] kulturelle Prozesse im Allgemeinen zu erklären und zu deuten vermag" (323), handelt. Auf diese Weise könne man auch die Differenziertheit des heutigen Europas besser begreifen und sogar "den Zusammenhalt der europäischen Staaten" (331) festigen, vor allem in Hinblick auf die aktuellen Migrationsdebatten. So skizziert Csáky Kontinuitäten vergangener und heutiger Wahrnehmungen von Europa und macht deutlich, dass die Einnahme (neo)nationalistischer Perspektiven keinesfalls unausweichlich ist: "Europa beinhaltete in der Vergangenheit und beinhaltet in der Gegenwart unterschiedliche, sich konkurrierende, von sprachlich-kulturellen Diversitäten und Differenzen bestimmte, sich jedoch überlappende (entangled) beziehungsweise entgrenzte Kommunikationsräume mit vielfachen kulturellen Kontaktzonen (cultural encounters), deren Referenz- und Identitätsbezüge folglich stets mehrdeutig und ambivalent bleiben" (336). Mit dem abschließenden Plädoyer zur Anwendung "Zentraleuropas" als analytische Kategorie auf den heutigen europäischen Raum überzeugt der Verfasser vom hohen Mehrwert seiner Forschungen, deren Ergebnisse aber auch ohne den Bezug auf die Gegenwart aufschlussreich und unerlässlich sind. Die vorliegende Monografie besitzt demnach das Potenzial, zu einem Standardwerk der (Eastern) European Studies zu avancieren.
Anmerkung:
[1] Moritz Csaky: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen - Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010.
Nora Mengel