Rezension über:

Nils Bennemann: Rheinwissen. Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt als Wissensregime, 1817-1880 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 260), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 314 S., 26 Kt., ISBN 978-3-525-33605-2, EUR 70,00
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Rezension von:
Frank Engehausen
Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Engehausen: Rezension von: Nils Bennemann: Rheinwissen. Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt als Wissensregime, 1817-1880, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/11/34539.html


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Nils Bennemann: Rheinwissen

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Bennemann hat mit seiner Duisburger Dissertation eine methodisch ambitionierte Studie vorgelegt, die ihrem Thema nach vor einigen Jahrzehnten unter dem Titel "Aspekte der Arbeit der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt im 19. Jahrhundert" hätte erscheinen können, die aber durch die Begriffe "Rheinwissen" und "Wissensregime" eine beträchtliche Aufwertung erfährt. Worum es ihm dabei geht, erläutert Bennemann in der Einleitung seiner Untersuchung, die exemplarisch erörtern will, "wie Wissen in internationalen Organisationen im 19. Jahrhundert produziert, verarbeitet und nutzbar gemacht wurde." (8) Der Begriff "Wissensregime" ist eine Entlehnung aus der Soziologie, markiert einen Gegensatz zur "Wissensordnung" und legt fest, "welche Art (oder Arten) von Wissen in einem bestimmten Kontext als angemessen, Erfolg versprechend oder notwendig gelten soll, und regeln, wie und von welchen Akteuren dieses Wissen gewonnen, weitergegeben und genutzt werden soll". In den Wissensregimen konkurrieren "unterschiedliche Wissensformen, wie wissenschaftliche, wirtschaftliche, politische oder öffentliche Erzeugung von Wissen, womit auch der Rückgang der Dominanz wissenschaftlichen Wissens einhergeht." (11)

Im Anschluss an die fast 30-seitige Einleitung, die Forschungsstand und Quellenlage akribisch diskutiert, schildert Bennemann unter der Überschrift "Die 'Freiheit der Flussschifffahrt' als Leitprinzip des Wissensregimes" zunächst in einem Kontextkapitel die "Etablierung der freien Rheinschifffahrt im 19. Jahrhundert" und die "Organisationsstruktur der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt" im Untersuchungszeitraum. Mit Blick auf seine Leitfrage, welches die konstitutiven Faktoren für das Wissensregime gewesen seien, hebt er neben dem in den Verträgen der beteiligten Staaten (Frankreich, Niederlande, Preußen, Bayern, Baden, Hessen und Nassau) verankerten Freiheitsprinzip die diplomatische Konferenz als zentrales Beschlussorgan sowie die durch die Verträge eingerichtete Verwaltung hervor, bei der er für die Beamtenschaft einen "Trend der zunehmenden 'Internationalisierung'" (52) ausmacht.

Wie auf der Basis des Prinzips der Freiheit der Flussschifffahrt in dem skizzierten organisatorischen Rahmen von dem vorgestellten Personal "Rheinwissen" gewonnen und genutzt wurde, untersucht Bennemann im Folgenden anhand von drei Beispielen: Der erste und kürzeste Hauptteil widmet sich unter dem Titel "Aperspektivierung: Rheinwissen, Längenfestlegung und Wissensregime, 1817-1846" den wiederkehrenden Bemühungen der Zentralkommission, zu einer verbindlichen Festlegung der Länge des Flusses zu kommen, die durch unterschiedliche Positionen in der Frage der Vermessungsmethoden erschwert wurde. Diese wurde schließlich nicht politisch geklärt, sondern von den zuständigen Praktikern auf der Basis "aperspektivischer Objektivität" gelöst. Das Ziel war es dabei nicht, "die Rheinlänge strikt entlang den zeitgenössischen Vorstellungen von Wissenschaft und Technik festzulegen, sondern kontextspezifisch für die Arbeit der Zentralkommission die unterschiedlichen Wissensbestände zueinander anschlussfähig zu machen." (95)

Nahezu den doppelten Umfang hat der zweite Hauptteil der Arbeit, der die von der Zentralkommission initiierten Strombefahrungen am Rhein in den Jahren 1846 bis 1861 in den Blick nimmt - auch hier zeugen die Überschriften der Kapitel und Unterkapitel (z. B. unter IV. 2 "Multiple Praxis": "Epistemische Konfiguration", "Epistemische Gemeinschaft", "Epistemische Praxis der Befahrung 1849", "Strombefahrung und Objektivierung als neue Umgangsform des Wissensregimes mit Rheinwissen") von dem Anliegen des Verfassers, Sachverhalte zu abstrahieren und mit Fachjargon auszuschmücken. Inhaltlich geht es um eine Abfolge von Rheinbefahrungen, die von der Zentralkommission initiiert worden waren, um Kenntnisse über die Schiffbarkeit des Flusses zu gewinnen, die in der praktischen Durchführung aber beträchtlich von den Vorgaben abwichen und erst in den 1850er Jahren auf etablierte Verfahren gestützt werden konnten. "Die Durchführungen der Strombefahrungen", so bilanziert Bennemann, "die damit verbundenen Verfahrensweisen der Objektivierung, das heißt die epistemische Konfiguration und die Bildung einer epistemischen Gemeinschaft, trug zur Herausbildung und Stabilisierung des Wissensregimes um Rheinwissen bei." (187)

In dem dritten, wiederum deutlich kürzeren Hauptteil analysiert Bennemann die Bemühungen um Standardisierung von Karten in den Jahren von 1846 bis 1880 und hebt dabei erneut hervor, dass "Rheinwissen" nicht nach Verordnungen produziert wurde, sondern sich in komplexen Strukturen Bahn brach. Als entscheidenden Impulsgeber und Weichensteller für die Standardisierung der hydrographischen Karten vom Rhein präsentiert er den seit 1860 amtierenden Oberinspektor der Rheinschifffahrt Karl Hermann Bitter, der bezeichnenderweise kein kartographischer Experte war, sondern ein preußischer Karrierebeamter, der Verhandlungserfahrungen als Mitglied der europäischen Donaukommission besaß und die Standardisierung nicht um ihrer selbst willen voranbrachte, sondern durch "feines Austarieren von unterschiedlichen Interessen." (242) Die an den drei Fallbeispielen erhobenen Befunde diskutiert Bennemann abschließend in einem als "Schnittstellen" titulierten Fazit, in dem er die Perspektive auch über das "Wissensregime" hinaus weitet und etwa die Fragen streift, welche Bedeutung nationales Konkurrenzdenken für die Entwicklung der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt hatte oder seit wann beziehungsweise inwiefern diese ihrer Selbstwahrnehmung nach eine internationale Organisation war.

So methodisch innovativ die aus breitem Archivmaterial geschöpfte, mit ihrer Thesenlastigkeit allerdings nicht durchgehend bequem zu lesende Studie in ihren darstellenden Teilen erscheint, so traditionell sind die höchst verdienstvollen Anhänge: Eine ausführliche Tabelle führt die Kommissare der Uferstaaten bei der Zentralkommission für den Untersuchungszeitraum auf, und 26 teilweise farbige Karten beziehungsweise Kartenausschnitte machen anschaulich, wie es im 19. Jahrhundert um das "Rheinwissen" bestellt war.

Frank Engehausen