Karolin Wetjen: Mission als theologisches Labor. Koloniale Aushandlungen des Religiösen in Ostafrika um 1900 (= Missionsgeschichtliches Archiv; Bd. 31), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 425 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12863-6, EUR 66,00
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Die vorliegende Göttinger Dissertation nimmt einen Aspekt der Missionsgeschichte in den Blick, der das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie unter den Gesichtspunkten von Theologie und religiöser Praxis beschreibt. Am Beispiel der von der Leipziger Missionsgesellschaft betriebenen Mission unter den Chagga am Kilimandscharo werden die Wechselwirkungen analysiert, die eine dezidiert lutherische Mission im deutschen Kolonialgebiet Ostafrika (in unmittelbarer Nähe zu und Absetzung von katholischen Missionsterritorien) auf die als krisenhaft wahrgenommene Situation der evangelischen Kirche im Deutschen Reich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte.
Die sächsische Landeskirche entwickelte in den wenigen Jahrzehnten der deutschen Kolonialmission ein großes Interesse an theologischen Reflexionen über missionsspezifische Fragen. Die Missionare wurden als Theologen ausgebildet, an den Universitäten speziell in Leipzig und Erlangen entstand das Fach "Missionswissenschaft" mit dem spezifischen Interesse, die in der Äußeren Mission gewonnenen Erfahrungen auch für die Innere Mission fruchtbar machen zu können.
Karolin Wetjen beschreibt die Auseinandersetzungen um die Missionstheologie an den evangelisch-theologischen Fakultäten deutscher Universitäten und entwickelt von dort aus "Grenzziehungen" zwischen den traditionellen religiösen Bräuchen der Chagga und ihrer Anschlussfähigkeit an die christliche Mission. Die lutherischen Missionare setzten sich mit den Bräuchen der Afrikaner auseinander und versuchten herauszufinden, was kulturell und was religiös konnotiert war. Wetjens Beispiel ist die Debatte um die Beschneidung von Jungen und damit verbunden die Initiationsriten in das Erwachsenenleben. Auch wenn als Hauptziel der Mission die Verbreitung des Gottesreiches angesehen wurde, stand die Arbeit der Missionare doch auch im Dienst der Kolonialbehörden und einer lutherischen Ethik der "Erziehung zur Arbeit". Wetjen hebt hervor, dass die Integrationsbemühungen in Richtung traditioneller Religion und ihrer kulturellen Implikationen stärker waren als gegenüber dem Islam, dessen Präsenz in Ostafrika als bedrohlich empfunden wurde.
Den Missionaren wurde das Erlernen der einheimischen Sprache(n) zur Voraussetzung ihres Wirkens gemacht. Die Bibel musste übersetzt, zentrale Begriffe möglichst eindeutig in die afrikanischen Sprachen transportiert werden. Auch wenn die Vermittlung der biblischen Geschichten selektiv erfolgte, wurden einzelne Teil der Schrift publiziert. Sie trugen damit zur Literalität der Bevölkerung bei. Dafür bedienten sich die Missionare "Intermediaries", die als Helfer im Unterricht an den Missionsschulen und Vertreter der Missionare auf Außenstationen eingesetzt wurden. Die Missionspredigt und ihre religionspädagogische Verortung sahen die Missionswissenschaftler als Paradigma für die Vermittlung christlicher Inhalte auch in Deutschland an.
Wetjen charakterisiert das missionarische Wirken als "Christianity Making" an drei theologischen und strukturellen Beispielen. Die Taufe als zentrales Ritual des Christentums wurde in der Mission im altchristlichen Sinn ausgestaltet mit einem mehrmonatigen Katechumenat und dem Taufgottesdienst, der nach der bayerischen Agende für die Erwachsenentaufe gestaltet wurde. Die Prüfung der Bereitschaft zu einem christlichen Leben war in der Vorbereitung ebenso wichtig wie das Glaubensbekenntnis im Gottesdienst und die Übernahme eines christlichen Namens, wobei Worte aus der Chaggasprache mit christlicher Konnotation biblischen Namen vorgezogen wurden. Ein zweites Element war die Ausbildung von Gemeindeordnungen und die Umsetzung von Maßnahmen der Kirchenzucht. Hier waren es in erster Linie sexuelle Vergehen, die mit öffentlicher Buße geahndet wurden. Drittens gestalteten die Missionare ihren Raum. Sie erbauten Kirchen und markierten damit christliche Inbesitznahme eines Territoriums. Von der Funktionalität und der architektonischen Gestaltung orientierten sich die Missionare an den Überlegungen, wie sie in der Dorfkirchenbewegung im Deutschen Reich angestellt wurden. Eine harmonische Einfügung in das Landschaftsbild war dabei ebenso wichtig wie die zentralen Ausstattungsgegenstände Altar, Kanzel und Glockenturm. "Lutherische Sakralitätskonzepte" wurden so in die Mission übertragen. Weil die Missionare ihre Tätigkeiten gut dokumentierten, wirkten sie über diese Berichte an die Zentralen und die Veröffentlichung in Missionsblättern auch wieder in die Heimat zurück. Die "mediale Inszenierung" der Mission sollte berufsweckend wirken, Berichte über Konversionen der Krisenstimmung der evangelischen Kirche im Reich Abhilfe schaffen helfen.
Karolin Wetjen interpretiert die Arbeit der Leipziger Missionsgesellschaft in Deutsch-Ostafrika als "Missionslabor". Die wenigen Jahrzehnte des Miteinanders von Kolonialherrschaft und missionarischem Wirken gestalteten in Afrika eine lutherische Infrastruktur, die in engem Austausch mit theologischen und pastoral-praktischen Überlegungen in Europa Wege zu einer Inkulturation des Christentums öffneten. Es ist erstaunlich, wie engmaschig sich die Kommunikation vollzog. Die Dissertation aus der Göttinger Schule von Rebekka Habermas zeigt, dass Mission Lernprozesse auf Seiten der Missionare und in der deutschen Theologie angestoßen hat. Mission war und ist kein einseitiger Vorgang, was für die gegenwärtigen Diskussionen um Kolonialität und Postkolonialität keine unwichtige Einsicht ist.
Joachim Schmiedl