Michael Koß: Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen, München: dtv 2021, 272 S., ISBN 978-3-423-28263-5, EUR 20,00
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In einer allseits gefühlten Krise eines Parteiensystems, das wir Älteren in diesem unseren Lande noch in voller Blüte erlebt haben, versteht sich dieses Buch als Antidot: Ja, die Zeit der Volksparteien und der um sie herum organisierbaren politischen Mehrheiten ist ein für alle Mal vorbei, und nein, das ist nicht das Ende einer Demokratie, die weiterhin wesentlich von politischen Parteien gestaltet wird, und in der Parlamente für die Allgemeinheit verbindliche Entscheidungen herbeiführen. Michael Koß reflektiert damit gleichermaßen die Parteiverdrossenheit und ihre historischen Ursachen wie er dem allseits, nicht nur bei den Rechtspopulisten angesagten Parteien-Bashing eine gelassen-nüchterne Perspektive auf den "Parlamentarismus von morgen" - so der Untertitel - entgegensetzt: Hauptsache wir engagieren uns!
In der Bundesrepublik Deutschland wie in Österreich, den beiden Fallbeispielen, die der Lüneburger Politikwissenschaftler gewählt hat, konnte nach dem Scheitern der Zwischenkriegsdemokratien an aus dieser Zeit überkommene, langlebige Konfliktlinien angeknüpft werden, um die herum die jeweiligen Parteiensysteme stabile parlamentarische Mehrheiten ermöglichten. In erster Linie ging es dabei um die im Rahmen eines Staats auf nationaler Ebene organisierte sozioökonomische Konfliktlinie des Kapital-Arbeit-Gegensatzes, ergänzt um Interessengegensätze wie denen zwischen Stadt und Land sowie zwischen den christlichen Konfessionen. Ab den 1970er Jahren überlagerten und durchkreuzten neu aufkommende, den nationalen Rahmen transzendierende Interessengegensätze diese angestammten Konfliktlinien. Die Folgen der Globalisierung zersetzten förmlich die Geschlossenheit der angestammten parteipolitischen Lager. Die nun vervielfältigten Parteienkonkurrenzen erschweren seitdem die Mehrheitsbildung und steigern damit - paradoxerweise - die Polarisierung im politischen Leben einer Nation.
Koß veranschaulicht diesen Prozess anhand der außergewöhnlichen Integrationskraft von "Lichtgestalten" wie Willy Brandt und Bruno Kreisky (79). Ihnen stellt er die "Renegaten" (73) im herkömmlichen Parteiensystem gegenüber, die teilweise noch in den alten Parteistrukturen, zunehmend aber an dessen Rändern die Bedienung von Partikularinteressen und Antiparteiensentiments zu ihrem Geschäftsmodell machten (Franz Olha und Jörg Haider in Österreich, Franz Schönhuber und Alexander Gauland in der Bundesrepublik). Merkel und Kurz sind nach Koß' Lesart dann bereits Antworten auf die eingetretene Polarisierung: Merkels systematische Vermeidung des Austragens von Wertekonflikten bei gleichzeitiger Nutzung von Krisen zur Erweiterung politischer Gestaltungsspielräume reduziere sie zu einer "Lichtgestalt im Energiesparmodus" (102). Kurz habe das Überleben der ÖVP gesichert, indem er sie zu im Wortsinne "seinem" Unternehmen umschrieb, in dem alles, von der Kanzlerschaft bis zu den Verlautbarungen der Koalitionspartner, gemäß dem Business-Konzept des Konzernvorstandes "geskriptet" wird (103).
Der mittlere Teil des Buchs geht den Voraussetzungen für das vormalige Funktionieren und nachmalige Scheitern der Volkspartei-Mehrheiten auf den Grund. Dabei identifiziert Koß, nicht gerade überraschend, den Kalten Krieg als "wahres Konjunkturprogramm für die Christ- und Sozialdemokraten" (132). Ämterpatronage und Klientelpolitik stabilisierten zunächst deren dauerhafte Verankerung in Regierungsverantwortungen, was, ergänzt durch die staatliche Parteienfinanzierung, paradoxerweise zur Transparenz des Verhältnisses von Parteipolitik und Ressourceneinsatz beitrug. Mit dem Ende des Kalten Kriegs kamen den Volksparteien dann die "ideologischen Leitplanken" (141), die ihnen über Jahrzehnte hinweg feste Kernwählerschaften gesichert hatten, abhanden.
Der parteipolitische Wettbewerb öffnete sich in kürzester Zeit für zusätzliche, vor allem der Globalisierung geschuldete Agenden: Migration, EU-Erweiterung, Währungskrisen, und der Deutschland mit der Vereinigung heimsuchende "Polarisierungsschub" (144). Davon profitierten die zwei Parteienfamilien, deren Agenden sich im positiven (Grüne) beziehungsweise im negativen (FPÖ, AfD) Sinne den aufsteigenden transnationalen Konfliktlinien verdanken. Die "Großen Koalitionen", die wegen fehlender Mehrheiten für altbewährte Mitte-links- oder Mitte-rechts-Koalitionen zum Regelfall mutierten, charakterisiert Koß als "Verschleißgemeinschaften" (160). Selbst wenn sie im Alltagsgeschäft "besser als ihr Ruf" (160) funktionierten, verhinderten die verbliebenen Kernanhängerschaften der beiden Partner die Verwirklichung grundlegende Großprojekte.
Angesichts dieses durch die Überlagerung der sozioökonomischen und transnationalen Konfliktlinien geschaffenen zweidimensionalen ideologischen Raums ist Nachdenken über neue "Mehrheitsbildende Maßnahmen", so die Überschrift von Teil 3, angesagt. Koß diskutiert darin Reformen, "die der Bildung gesellschaftlicher, parteipolitischer und parlamentarischer Mehrheiten förderlich" sind - nicht mehr und nicht weniger. Einige oftmals vorgeschlagene Abhilfen weist er zurück: "Dezentralisierung von Macht" sei kein "probates Mittel" zu Stärkung der Demokratie, da sie die Rolle der Parteien selbst konterkariere (190). Stattdessen müssten die Partizipationsmöglichkeiten der Wähler im Verhältnis zu den Parteien und der Kreis der Wahlberechtigten ausgeweitet werden, während die Tendenz zur Ausweitung plebiszitärer Entscheidungsfindungen innerhalb der Parteien etwa bei der Wahl von Spitzenämtern - so die leidvollen Erfahrungen der SPD - mehr Nach- als Vorteile mit sich brächten.
Des Weiteren fordert Koß die beschleunigte Inklusion der dauerhaft ansässigen Einwanderer, denn politisch gesehen werde ein "Volk immer durch die Zu- und Aberkennung des Wahlrechts geschaffen" (210). Es drohe ein "Rückfall ins 19. Jahrhundert", wenn, wie etwa unlängst bei Landtags- und Gemeindewahlen in Wien, der Anteil der nichtwahlberechtigen Ausländer (25%) den der Nichtwähler (22%) übersteigt, sich mithin nur die knappe Hälfte der erwachsenen Einwohner und Einwohnerinnen am politischen Prozess beteiligen. Ergänzend empfiehlt Koß "mehrheitsbildende Parlamentsregeln", darunter die Herabsetzung des (im internationalen Vergleich hohen) Quorums des Deutschen Bundestags für Abstimmungen.
In seinem abschließenden Appell gibt Koß eine Reihe von "Ratschlägen", wie man sich zum nun wiederhergestellten "Normalzustand eines eher entgrenzten politischen Wettbewerbs" (225) verhalten solle: "Es hat keinen Sinn zu warten, bis es besser wird", oder: "Haben Sie ruhig ein wenig Angst um die Demokratie" (226), oder ganz klassisch an die jungen Aktivistinnen und Aktivisten gerichtet: "Begeben Sie sich auf den Marsch durch die Institutionen". Die zentrale Botschaft des Buchs überbringt Ratschlag Nr. sechs: "Der Fluchtpunkt politischen Handelns sollten die Parteien sein", denn nur diese seien in der repräsentativen Demokratie letztendlich in der Lage, "gesellschaftliche Komplexität [zu] bündeln" (229).
Dieses Buch gehört zur Gattung jener intellektuell gehaltvollen Bürgerberatungsliteratur, die komplexe Sachverhalte auf dem Stand aktueller Forschung - 15 Seiten Literaturapparat und Schaubilder inklusive - einem "breiteren Leserkreis" (233) nahebringen wollen. Fachleuten bietet es daher kaum neue Befunde, aber sie können sich durchaus einiges an den gekonnten argumentativen Verknüpfungen von bereits Bekanntem abschauen. Der Autor bedient sich eines dialogischen, teilweise "lockeren" Sprachduktus, der auch bei langwierigeren Erörterungen für unterhaltsame Lektüre sorgt, dem Gegenüber immer auf Augenhöhe begegnet, und auch das Aussprechen von Banalitäten nicht scheut. Koß' Versuch, die der Parteipolitik bislang eher fernstehenden, aber politisch aufgeklärten Mitmenschen dazu zu überreden, sich als citoyens und citoyennes in unsere Demokratien einzumischen, ist aller Ehren wert.
Thomas Lindenberger