Rezension über:

Marcel Mierwald: Historisches Argumentieren und epistemologische Überzeugungen. Eine Interventionsstudie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor, Heidelberg: Springer-Verlag 2020, XVI + 349 S., ISBN 978-3-658-29954-5, EUR 64,99
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Rezension von:
Kristopher Muckel
Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, RWTH Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Kristopher Muckel: Rezension von: Marcel Mierwald: Historisches Argumentieren und epistemologische Überzeugungen. Eine Interventionsstudie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor, Heidelberg: Springer-Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 12 [15.12.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/12/35982.html


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Marcel Mierwald: Historisches Argumentieren und epistemologische Überzeugungen

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Hat sich die Geschichtsdidaktik lange Zeit vorrangig mit kreativen Schreibprozessen beschäftigt [1], liegen aus den 2010er-Jahren einige empirische Arbeiten vor, die "auf einem explorativen Stand" (48) die Auswirkungen von Aufgabenstellungen, Instruktionen und mit dem Schreibprozess unmittelbar verbundenen unterrichtlichen Maßnahmen auf domänenspezifische Schreibprozesse in den Blick nehmen. Den dort noch unbeachtet gebliebenen Bereich des Einflusses von Lernmaterialien auf die Ergebnisse historischer Schreibaufgaben untersucht Marcel Mierwald in seiner Dissertationsschrift im Rahmen einer quasi-experimentellen Intervention mit drei verschiedenen Lernsettings im 'Alfried Krupp-Schülerlabor' der Ruhr-Universität Bochum. Die gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf die historische Argumentationsfähigkeit und domänenspezifischen epistemologischen Überzeugungen von Schülerinnen und Schülern reichen jedoch über den Kontext des Schülerlabors hinaus und geben wertvolle Hinweise zur Gestaltung historischer Schreibprozesse.

Ausgehend von der für die Legitimation der Studiendurchführung in einem Schülerlabor zentralen Definition geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Schülerlabore als außerschulische Lernorte, "an denen Kindern und Jugendlichen Einblicke in die akademische Bezugsdisziplin vermittelt werden" (12), werden die Bereiche der Authentizität und Wissenschaftsvermittlung als wesentliche Säulen des Lernorts Schülerlabor benannt. Basierend auf der 'disziplinären Matrix' Jörn Rüsens und dem 'Framework' für 'historical reasoning' nach Jannet van Drie und Carla van Boxtel umreißt das daraus entwickelte Rahmenmodell "Historisches Denken und Argumentieren lernen" (42) sowohl die Strukturierung des Arbeitsprozesses im Schülerlabor als auch dessen theoretische Grundlagen.

Diese entfaltet Marcel Mierwald einerseits im Hinblick auf die historische Argumentationsfähigkeit vor dem Hintergrund der narrativistischen Geschichtstheorie, anhand derer er das historische Argumentieren auf Basis europäischer und außereuropäischer geschichtsdidaktischer Forschung unter breiter Berücksichtigung von Erkenntnissen der pädagogischen Psychologie als "eine besondere Form des wissenschaftlichen historischen Erzählens" (35) herausarbeitet. Andererseits definiert er das Konzept der epistemologischen Überzeugungen als jenen Bereich der epistemischen Kognition, "der sich auf Annahmen, Ansichten und Vorstellungen" (54) einer Person zu Struktur und Genese domänenspezifischen Wissens bezieht. Aus der Verbindung dieser beiden Teilbereiche wird das Erkenntnisziel der Studie zugespitzt auf die Beantwortung der Frage nach dem Einfluss der Materialauswahl im Schülerlabor sowie der epistemologischen Überzeugungen Lernender auf deren historische Argumentationsfähigkeit.

Das Lernmaterial wurde dabei im Rahmen eines "nicht-randomisierten Drei-Gruppen-Plans mit Pre-Test, Intervention und Post-Test" (101) in einem quasi-experimentellen Design, das sich die Rahmenbedingungen des Lernorts Schülerlabor zunutze macht, anhand seiner Authentizität für das (wissenschaftlich-) historische Erkenntnisverfahren in drei Stufen variiert. So erhielt eine Gruppe nicht didaktisierte Quellen sowie Auszüge aus historischen Darstellungen, die beide für eine zweite Gruppe professionell vertont als Audiodokumente zur Verfügung gestellt wurden. Die dritte Gruppe arbeitete mit einem auf Grundlage dieser Materialien durch den Autor selbst erstellten Schulbuch.

Die eintägige Intervention, die mit insgesamt drei fachlichen und methodischen Inputs zu einer materialbasierten Aufgabe zum Schreiben einer historischen Argumentation hinführte, wurde mit Lernenden der gymnasialen Oberstufe durchgeführt, die jeweils lerngruppenweise den Materialbedingungen zugewiesen wurden. Durch die im Pre- und Posttest eingesetzten Fragebögen sind daneben die Rahmenbedingungen der Intervention und insbesondere die "vor-experimentellen Unterschiede zwischen den untersuchten Teilstichproben" (143) erhoben worden, um etwaige signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen in "wesentlichen personen- und leistungsbezogenen Merkmalen" (171) als Einflussfaktoren auf die weiteren Ergebnisse auszuschließen.

Die detailliert offengelegte und sorgfältig diskutierte quantitative Auswertung sowohl der Fragebögen als auch der auf Intercoderreliabilität geprüften Inhaltsanalyse der historischen Argumentationen der Lernenden erfolgt auf Grundlage von "Verfahren aus der Deskriptiv- oder Inferenzstatistik" (160). In diesem Setting des Schülerlabors stützt sie die auf früheren Studien aus der Forschung zum Schreiben mit multiplen Dokumenten basierende Annahme, dass historische Argumentationen, die auf Grundlage authentischer Materialien verfasst worden sind, im Durchschnitt eine höhere Gesamtqualität aufweisen. Ein ebenfalls positiver Einfluss der authentischen Textdokumente auf die epistemologischen Überzeugungen Lernender zur Domäne Geschichte konnte ebenfalls nachgewiesen werden. Argumentative Schwierigkeiten bereiten hingegen die aus der Arbeit mit den vertonten Materialien resultierenden Ergebnisse, die sich im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf das historische Argumentieren auf dem Niveau der Resultate aus der Arbeit mit dem Geschichtsschulbuch bewegen. Ihre Auswirkungen auf die epistemologischen Überzeugungen Lernender sind hingegen eher mit denen der authentischen Textdokumente vergleichbar.

Ohne dass dadurch der enorme Wert der Studie, der insbesondere in ihrer transparent-systematischen Anlage und der damit verbundenen hohen Aussagekraft sowohl für den klar umgrenzten Bereich des quasi-experimentellen Settings als auch für Überlegungen zur Förderung historischer Schreib- und Denkleistungen im Allgemeinen liegt, drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, inwieweit die neben den authentischen Textdokumenten gewählten Materialien optimal für das gewünschte Erkenntnisinteresse gewesen sind: Auch wenn sich "[n]achgesprochene Textquellen [...] häufig in geschichtskulturellen Angeboten" (77) finden, erscheint der Vergleich zwischen zwei, den Lernenden grundsätzlich vertrauten schriftlichen Dokumentenformen mit einer unvertrauten Form in einem anderen Medium zumindest argumentativ problematisch. Dass sich das durch den Autor selbst konzipierte Schulbuch aus Gründen der Vergleichbarkeit mit den anderen Materialbedingungen "in der inhaltlichen Auswahl substanziell von gewöhnliche[m] Schulunterrichtsmaterial" (215) unterscheidet, liegt hingegen, um den Informationsgehalt der Materialien vergleichbar zu halten, aus forschungslogischer Sicht wohl nahe.

In der Gesamtschau liefert Marcel Mierwald mit seiner Studie wichtige Impulse zum historischen Argumentieren und zu epistemologischen Überzeugungen Lernender sowohl für die geschichtsdidaktische Forschung als auch für den Geschichtsunterricht. Auch wenn die detailliertere Untersuchung des konkreten Umgangs der Lernenden mit den Materialien ebenso als Forschungsbedarf benannt wird wie insbesondere die Überprüfung der gewonnenen Erkenntnisse am Lernort Schule, stellen die Ergebnisse die Bedeutung von Lernmaterialien für das historische Lernen eindrücklich heraus. Besondere Pionierarbeit leistet die Studie daneben auch für die Legitimation der wenigen bestehenden geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Schülerlabore [2], deren Wirksamkeit im Hinblick auf einen "Zuwachs an inhaltlichem Wissen und prozeduralem Wissen" (217) der Teilnehmenden in dieser ersten Untersuchung, die eines von ihnen zum Gegenstand empirischer geschichtsdidaktischer Forschung macht, nahegelegt wird.


Anmerkungen:

[1] Vergleiche beispielsweise den ausführlichen Forschungsbericht von Hilke Günther-Arndt: Hinwendung zur Sprache in der Geschichtsdidaktik - Alte Fragen und neue Antworten, in: Geschichte und Sprache, hgg. von Saskia Handro / Bernd Schönemann, Berlin 2010 (= Zeitgeschichte, Zeitverständnis; Bd. 21), 35.

[2] Von den immerhin 434 Angeboten, die der Schülerlabor-Atlas des Bundesverbands der Schülerlabore listet, sind maximal sechs geistes- und gesellschaftswissenschaftlich ausgerichtet, vergleiche LernortLabor - Bundesverband der Schülerlabore e.V. (Hg.): Schülerlabor-Atlas, https://www.schuelerlabor-atlas.de/home/Geisteswis/F (zuletzt abgerufen am 15.11.2021), obgleich die Übersicht offenkundig unvollständig und auf dem Bundesverband angeschlossene Angebote beschränkt ist, da beispielsweise im Zuge der 'Qualitätsoffensive Lehrerbildung' eingerichtete Angebote wie das 'Lehr-Lern-Forschungslabor Geschichte' (https://llf.uni-mainz.de/llf-geschichte/, zuletzt abgerufen am 15.11.2021) nicht aufgeführt werden.

Kristopher Muckel