Timo Bonengel: Riskante Substanzen. Der "War on Drugs" in den USA (1963-1992), Frankfurt/M.: Campus 2020, 433 S., ISBN 978-3-593-51172-6, EUR 45,00
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2010 erschien das Buch "The New Jim Crow. Mass Incarceration in the Age of Colorblindness". [1] Das Werk der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin und Bürgerrechtsaktivistin Michelle Alexander avancierte rasch zum Bestseller. Es katalysierte eine anhaltende Debatte über strukturellen Rassismus im US-Strafverfolgungssystem. Eindringlich zeigte Alexander die Schlüsselstellung des 1971 unter Präsident Nixon begonnenen "War on Drugs" in einem Rechts- und Strafsystem, das gezielt gegen bestimmte Gruppen, insbesondere Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen, in Stellung gebracht wurde. Die Folgen waren und sind massenhafte Inhaftierungen, die überproportional nicht-weiße Bevölkerungsteile betreffen, sowie die weitere Verschärfung ihrer sozialen und politischen Marginalisierung.
In seiner nun veröffentlichten Dissertation knüpft Timo Bonengel an diese wirkmächtige Deutung an. Zugleich, und damit hebt sich das Buch in der Forschungslandschaft ab, erweitert er die Perspektive, indem er den War on Drugs als Teil staatlicher Sozial- und Gesundheitspolitik analysiert. Diskurse um "Gesundheit und Leistungsfähigkeit, um Produktivität, Potential und Reproduktion" (10) rücken so ins Zentrum. Dass diese nicht weniger rassistisch und desaströs waren als Strafverfolgungen, zeigt die Untersuchung nachdrücklich. Bonengel demonstriert, wie eng Kriminalisierung (und Legalisierung) von Drogen mit medizinischen Diskursen zusammenhing. Die Frage nach dem wissenschaftlichen Wissen und dessen Einfluss auf Drogenpolitik leitet die Untersuchung.
In vier Teilen werden verschiedene Phasen und Ansätze wissenschaftsbasierter Drogenpolitiken in den USA freigelegt. Methodisch-theoretisch an Foucault geschult wird dabei nach "Problematisierungen und Lösungsstrategien" (13) gefragt. Foucaults Ansätze zur Analyse der Regierung öffentlicher Gesundheit erfreuen sich in medizinhistorischen Studien großer Beliebtheit und erweisen sich auch für das Thema der Drogenpolitik als ertragreich. Entlang hierarchischer Kategorien von race, class und - in der Analyse etwas untergeordnet - gender orientierten sich Maßnahmen an der angenommenen Fähigkeit Betroffener zur verantwortungsvollen Selbststeuerung. Konkret bedeutete das, dass Konsum von sozial schwachen, überwiegend afroamerikanischen Bewohnern und Bewohnerinnen urbaner Zentren als massiv risikobehaftet eingestuft wurde. Juristische Milde und aufklärende Prävention blieb das Privileg der überwiegend weißen Ober- und Mittelschicht.
Die ersten beiden Teile, die die 1960er und 1970er Jahre in den Blick nehmen, arbeiten derartige Ungleichheiten auf breiter empirischer Basis heraus. Am Beispiel von Heroin (Kapitel 1 und 2) wird gezeigt, wie wissenschaftliche Expertise und Therapiekonzepte neben die Strafverfolgung traten. Wurden afroamerikanische Süchtige Ziel von Interventionen, um die (weiße) Mittelschicht vor der Heroin-"Epidemie" (41) zu schützen, verhielt es sich bei Marihuana (Kapitel 3) und Kokain (Kapitel 4) andersherum. Angesichts zunehmender Verbreitung in der Ober- und Mittelschicht wurden Forderungen nach Legalisierung, die unter den Präsidenten Ford und Carter durchaus Gehör fanden, mit wissenschaftlichen Thesen zum kontrollierten, wenig riskanten, gelegentlichen Konsum begründet. Vor dem Hintergrund der Forschung zur Geschichte des Rassismus in den USA überraschen diese Beobachtungen nicht so sehr. Extrem aufschlussreich sind aber die Befunde zur wissenschaftlichen Unterfütterung politischer Strategien. Sie zeigen die gesellschaftliche Rückbindung fachlicher Debatten, etwa den Einfluss von Liberalisierungstendenzen und rassistischer Stereotype auf Fragestellungen und Studiendesign, sowie die Wirkung vermeintlich externer Faktoren, wie Finanzierungszwänge oder der Wunsch nach politischem Gehör. Deutlich wird schließlich, dass in einem breiten Forschungsspektrum unterschiedliche politische Ansätze legitimiert werden konnten.
Auch der Widerstand gegen eine liberale Drogenpolitik konnte sich auf Forschung stützen. Im Kontext konservativer Debatten um Werteverlust zogen neue Leitlinien und wissenschaftliche Berater mit Ronald Reagan ins Weiße Haus ein. Neurowissenschaftliche Studien malten nun ein düsteres Bild von der allen drohenden "neurochemischen Unterwerfung" (190) durch Drogen. Dass solche egalisierenden Erklärungen kein Ende von Ungleichbehandlungen in Wissenschaft und Praxis bedeuteten, zeigen der dritte und vierte Teil nachdrücklich. Hier werden die 1980er und 1990er Jahre untersucht. Unter Reagan und seinem Nachfolger George Bush verschärfte sich die Drogenpolitik in dieser Zeit. Konsum wurde als Verbrechensproblem und Risiko für individuelle Produktivität und wirtschaftliche Stabilität stärker problematisiert. Auch die weiße Mittelschicht geriet stärker ins Visier von Prävention, schulischer Aufklärung und Drogentests am Arbeitsplatz (Kapitel 5). Forschung zum medizinischen Nutzen von Drogen, etwa in der Schmerztherapie, fand hingegen kein Gehör in Washington (Kapitel 6).
Nicht Appelle an Eigenverantwortung, sondern weitere Kriminalisierung und Stigmatisierung erfuhren Menschen aus sozial prekären Verhältnissen. Das betraf intravenöse Drogennutzerinnen und Drogennutzer, die in der HIV/Aids-Krise als Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft galten (Kapitel 8). Eine regelrechte Hysterie mit offen eugenisch-rassistischen Tönen entwickelte sich um cracksüchtige Schwangere (Kapitel 7). Wissenschaftliche Arbeiten trugen zu dieser Risikowahrnehmung bei, auch wenn sie fehlende Therapiemöglichkeiten kritisierten. Gleichwohl lässt sich eine zunehmende Kluft zwischen Wissenschaft und (Drogen-)Politik beobachten. Bonengel schreibt dies der stark symbolpolitischen Aufladung von Drogen zu, die wenig Raum für wissenschaftliche Positionen ließ. Angesichts des symbolischen Charakters auch liberalerer Politiken wog der zweite Punkt und damit der Verlust von Einfluss und Forschungsgeldern vermutlich schwerer.
Diese empirisch und analytisch reiche Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur hochaktuellen Debatte um die amerikanische Drogenpolitik und lädt nicht zuletzt ein, die gegenwärtige Opioid Crisis an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft zu analysieren und zu historisieren. Der Blick auf sozial- und gesundheitspolitische Aspekte zeigt, wie zentral medizinische und soziale Debatten waren, und legt die Zusammenhänge gesundheitspolitischer Diskurse mit sozialen Ordnungsvorstellungen und rassistischen Denkmustern frei. Die Analyse des wissenschaftsbasierten Umgangs mit "riskanten Substanzen" tritt so in Dialog mit Arbeiten über das Straf- und Justizsystem und vermag es, deren Befunde zu ergänzen und verfeinern.
Anmerkung:
[1] Michelle Alexander: The New Jim Crow. Mass Incarceration in the Age of Colorblindness, New York 2010.
Andrea Wiegeshoff