Tazuko Angela van Berkel: The Economics of Friendship. Conceptions of Reciprocity in Classical Greece (= Mnemosyne. Supplementa; Vol. 429), Leiden / Boston: Brill 2020, VII + 539 S., ISBN 978-90-04-41613-0, EUR 125,00
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Die vorliegende Studie stellt eine beeindruckende intellektuelle Leistung wie auch Herausforderung dar, der der Rezensent gerecht zu werden hofft. Tazuko Angela van Berkel geht in der überarbeiteten Version ihrer Leidener Dissertation aus dem Jahr 2012 der Frage nach, wie das Aufkommen der Geldwirtschaft ab der Spätarchaik die fundamentalen Regeln des menschlichen Zusammenlebens veränderte (und vice versa). Dabei geht sie davon aus, dass die Einführung des Geldes in den Tauschhandel - samt seiner sozialen Regeln - dafür gesorgt habe, Freundschaft (philia) überhaupt erst als autonomes, reziprokes System (charis) entstehen zu lassen. Damit reiht sich van Berkel in ein neuerdings wieder entfachtes Interesse an der Verbindung sozial- und wirtschaftshistorischer Fragestellungen ein. [1]
Das für diese These ins Feld geführte Quellenkorpus (vor allem aus philosophischen und tragischen Werken [2]) zeigt bei genauerer Analyse, wie Freundesbeziehungen mit Normen rein monetärer Verhältnisse verglichen wurden. Anders als heute wird philia weniger als emotionale Beziehung konzeptualisiert, sondern als ein anhaltender Prozess, der viel nachhaltiger Kommunikation bedarf, um Freundschaft aufrechterhalten zu können, während Handel einen kurzlebigen Austausch bezeichnet, bei dem Geld die Funktion der Dauerhaftigkeit und Stabilisierung übernimmt. Diese Unterscheidung von sozialer und wirtschaftlicher Kommunikation bildete die Voraussetzung eines rationalisierten Ökonomieverständnisses, das den Kern und den Einfluss von Geld auf soziale Normen (und Reziprozität) reflektiert. Auf der Grundlage eines Modells von Wirtschaft, das noch nicht von anderen gesellschaftlichen Subsystemen (beispielsweise Religion oder Politik) abgesetzt, sondern "embedded" sei (8 und 33), diskutiert van Berkel die Chancen und Konsequenzen eines sich zusehends ausdifferenzierenden Wirtschaftssystems. Ihre Herangehensweise zeigt die Autorin in dichten und anspruchsvollen Tiefenstudien der nach systematischen Gesichtspunkten angeordneten Untersuchung. Den heuristischen Rahmen bilden Marshall Sahlins Konzept der Reziprozität und Karl Polanyi, mit dem van Berkel die great transformation aus antiker Perspektive zu erklären sucht, ferner Richard Seafords Überlegungen zur sozialen Bedeutung des Geldes. Für die Entwicklung bzw. Untermalung ihrer These benötigt sie sieben Kapitel, die durch eigene Zwischenfazits und vier verschiedene Indizes (zu modernen Autoren, Eigennamen und Begriffen, griechischen Begriffen und antiken Quellen) sowie eine umfangreiche Bibliographie abgerundet werden.
Die ersten beiden Kapitel widmen sich der Verfeinerung der Terminologie. Demnach bezeichnet philia im antiken Griechenland eine überpersonelle Beziehung, die tief in der sozialen Wirklichkeit verankert und auf soziale Gegenseitigkeit abgestellt war. Sie reichte von Freundschaften unter Kindern bis hin zur nachhaltigen Solidarität unter Erwachsenen. Dabei ist die mit Freundschaft assoziierte Emotion nicht Ausgangspunkt dieses sozialen Verhältnisses, sondern vielmehr ihr Ergebnis, das weitere Handlungsketten in Gang setze. Die mit philia verbundene Reziprozität kann sowohl objektiviert werden, indem festgestellt wird, was eine Partei einer anderen schuldet, als auch subjektiviert, indem alle an einer sozialen Transaktion beteiligten Akteure auf Gefühle und Intentionen zu prüfen sind. Eine nähere Betrachtung offenbart nahezu eine Transzendierung des Freundschaftsbegriffes gegenüber dem kommerziellen Austausch. Philia sei zudem ein Konzept gewesen, das zunächst in Relation zu Feindschaft definiert wurde. In diesem Zusammenhang diskutiert van Berkel auch die Grenzen der Funktion des Geldes als Supplement der Gegenseitigkeit, das sich rein wirtschaftlichen Mechanismen entzieht. Unter dem polyvalenten Begriff der charis (Kap. 2) dürfe aufgrund seiner Rolle in langfristigen Beziehungen am ehesten "Reziprozität" verstanden werden. Damit einher gehe das Dilemma, dass die Gabe in der Theorie stets auf die gleichwertige, verpflichtende Gegengabe angewiesen sei, die bei der Übertragung des sozialen Verhältnisses in den ökonomischen Bereich jedoch zu einem Problem führe, denn besonders Zinsnahme karikiere die Vorstellung einer streng symmetrischen Reziprozität.
Die affektive Zuneigung der Kinder gegenüber den Eltern ist Gegenstand des dritten Kapitels. Im klassischen Athen war die gerechte Behandlung von Mutter und Vater durch den Sohn sogar Teil des Dokimasievefahrens. Im philosophischen Diskurs jener Jahre werden die moralischen Grundlagen jener Verpflichtung, sich um die alt gewordenen Eltern zu kümmern, thematisiert; van Berkel fragt danach, ob es sich dabei um ein rationales Entgegnen der von den Eltern am Erwachsenen geleisteten Dienste, um Dankbarkeit oder ein völlig diffuses Gefühl handelte. Nach der Auffassung der zeitgenössischen Quellen ging es bei jener Sorgepflicht um eine, dem Verhalten der Griechen tief eingeschriebene Dankbarkeit, die Kinder dazu bewegte, die ("liebevolle") Behandlung durch Vater und Mutter zu erwidern. Erneut sieht van Berkel eine Analogie zum Wirtschaftsleben. Demnach schuldeten die Kinder den Eltern in ähnlicher Weise wie der Schuldige den Schuldnern in einem eranos-Verhältnis, da die zwischen Freunden mobilisierte Solidarität ebenso schwierig aufzuwiegen sei wie die moralische Last der Kinder gegenüber Eltern. Einen zinslosen Kredit in Form eines gemeinschaftlichen Darlehens für einen der ihrigen zu gewähren, bedürfe folglich einer tiefgreifenden philia. [3]
Konsequenterweise geht Kapitel 4 auf die (vornehmlich philosophisch geführte) Debatte des Schuldenwesens ein, um sie in den Kontext der Reflektion über die Verpflichtung zur sozialen Wechselseitigkeit zu stellen. Abseits dieses Höhenkammdiskurses, so sei ergänzt, waren einfache Athener recht häufig auf finanzielle Hilfe in Form eines Darlehens seitens ihrer Mitbürger angewiesen. Stand man in üblem Ruf, war die Wahrscheinlichkeit, ein Darlehen zu erhalten (insbesondere ein zinsfreies wie in der eranos-Beziehung), entsprechend gering. Hatte ein Athener einen Kredit aufgenommen und zierte sich die fällige Rückzahlung vorzunehmen, konnten die Gläubiger versuchen, Druck auf den Säumigen auszuüben, indem sie seinen Leumund attackierten. Dadurch warnten sie auch andere, potentielle Kreditoren vor ihm. Demosthenes legt in seiner Rede Gegen Apaturios Zeugnis von einem solchen Fall ab. [4]
Kapitel 5 widmet sich der Vermengung von Freundschaft und Marktverkehr. In einer Linie mit Platon, der Geld und Geschäfte für anrüchig hält, stehen Ansichten, wonach die Beziehung zwischen Handelspartnern quasi das Gegenteil einer Freundschaft darstelle, denn dabei werden keine "long-term reciprocal relations" (69 und 119) konstituiert. In seinem Spätwerk geht Xenophon dagegen deutlich pragmatischer vor und unterscheidet zwischen einem guten und schlechten Einsatz von Handels- und Tauschgeschäften bzw. des dafür notwendigen Geldes. Er argumentiert, dass sich Investitionen in Freundschaften (in Form von Zeit, Einsatz oder materiellen Gütern) durchaus lohnten, denn in Notzeiten könnten sie aktiviert werden, um bei finanziellen oder sonstigen Problemen auszuhelfen.
Von einem close reading einer Passage aus den xenophontischen memorabilia (3, 11) nimmt das sechste Kapitel seinen Ausgang. Durch die Perspektive des eros deutet die Autorin Reziprozität nun nicht mehr als zwingend symmetrisch. Vielmehr ist die erwiesene Gabe vor dem Hintergrund einer "active partnership" nun jeweils zu übertreffen; es entspinne sich aus der Perspektive so gelagerter Freundschaftsbeziehungen ein Wettbewerb darum, wer eine geleistete Gefälligkeit wie zu übertrumpfen wisse.
Das letzte Kapitel wendet sich (der Rezeption) einer zentralen Stelle für die antike Wirtschaftsgeschichte zu. Demnach sei Polanyis Deutung der Nikomachischen Ethik (1132a 3-5) verfehlt, wenn er postuliert, darin erkenne man eine Autonomisierung des wirtschaftlichen Feldes gegenüber anderen Teilsektoren des Gemeinwesens. Im Passus werde jedoch keine Theorie der Preisbildung geboten, sondern eine Beschreibung des Austauschs auf dem Markt, der den Gesetzen der Reziprozität und philia wenig gehorche und höchstens eine utilitaristische und kurzfristige Freundschaft begründe. Gleichwohl sei philia unter den Bürgern unabdingbar, denn sie halte die Polis zusammen. Ihren Ursprung habe sie jedoch im bedarfsorientierten Handel, der die Stadt überhaupt erst vereine (synoikismos).
Insgesamt gelingt es Tazuko Angela van Berkel eine überaus innovative und thesenreiche Untersuchung vorzulegen, die in anspruchsvoller und sorgfältiger Weise Ansätze der Anthropologie, Philosophie sowie Philologie verbindet und gewiss eine rege Diskussion anstoßen wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. jüngst Moritz Hinsch: Ökonomik und Hauswirtschaft im klassischen Griechenland, Stuttgart 2021; ferner Dorothea Rohde: Von der Deliberationsdemokratie zur Zustimmungsdemokratie. Die öffentlichen Finanzen Athens und die Ausbildung einer Kompetenzelite im 4. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 2019.
[2] Obwohl sicherlich auch der ikonographische Befund einiges zutage fördern und womöglich van Berkels Anliegen unterstreichen könnte; vgl. exempli gratia Myriam Ruth: Konzepte freundschaftlicher Beziehungen in der griechischen Bildkunst, Hamburg 2018.
[3] Schon Paul Millett: Lending and borrowing in ancient Athens, Cambridge 1991, und Edward E. Cohen: Athenian economy and society. A banking perspective, Princeton 1992, haben nachweisen können, welch immense Bedeutung dem eranos im Wirtschafts- und Sozialleben der Athener zukam.
[4] Dem. 33; in einer anderen Anekdote berichtet Isokrates (18, 9) davon, wie der vermeintlich finanziell geschädigte Kallimachos das Renommee des angeblich säumigen Sprechers zu schädigen gedachte, indem er unter den Leuten und vor allem in den ergasteria diffamierenden Klatsch streute.
Christopher Degelmann