Rezension über:

Judith Heß: Europäisierung des Gedenkens? Der Erste Weltkrieg in deutschen und britischen Ausstellungen (= Public History - Angewandte Geschichte; Bd. 8), Bielefeld: transcript 2021, 340 S., ISBN 978-3-8394-5619-4, EUR 59,99
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Rezension von:
Daniel Groth
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Groth: Rezension von: Judith Heß: Europäisierung des Gedenkens? Der Erste Weltkrieg in deutschen und britischen Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 1 [15.01.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/01/35447.html


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Judith Heß: Europäisierung des Gedenkens?

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Der Erste Weltkrieg war geprägt von Kämpfen unvorstellbarer Grausamkeit. Soldaten der kriegführenden Nationen lagen sich in den Schützengräben gegenüber und warteten auf den nächsten todbringenden Angriff. Schützengraben, Maschinengewehr, Gaskrieg, Stoßtrupps mit Flammenwerfern und Grabenkeulen: Das sind nur einige der prägenden Faktoren, die sinnbildlich wurden für das Kämpfen und Töten im "großen Krieg". Der unerbittliche Kampf spiegelte sich auch in den Köpfen wider. Denn das Gemetzel ging einher mit unüberwindbaren Feindbildern, die die "Gegner" teils zu "Wilden" und "minderwertigen", "grausamen" Kreaturen verkümmern ließen. Dieser Aspekt spielt auch in der Musealisierung des Krieges eine Rolle. Denn, während die Kämpfe an den Fronten noch tobten, wurde der Krieg an den Heimatfronten bereits ausgestellt. In Beuteschauen versuchte man die Überlegenheit über den "Feind" darzustellen und die gegnerischen Soldaten als Menschen zweiter Klasse zu präsentieren. Das ist zum Glück mehr als 100 Jahre her. Wie aber haben sich diese Perspektiven gewandelt?

Judith Heß stellt in ihrer 2021 erschienenen Dissertation diese Frage. Haben sich in einer Zeit, in der "die Einheit Europas beschworen wird", alte Feindschaften in musealen Darstellungen des Ersten Weltkriegs gänzlich aufgelöst? Kann man gar von einer Europäisierung des Gedenkens sprechen? Diesen Fragen nähert sich die Autorin über eine vergleichende Beschäftigung mit deutschen und britischen Sonderausstellungen des Jahres 2014 an. Das ist freilich sinnvoll, da 2014, das große 'Centenary' des Ersten Weltkriegs, die Möglichkeit bietet, eine Fülle von neuen Perspektiven und Geschichtsbildern zu untersuchen, die in diesem Jahr gebündelt zutage traten. Die Materialbasis der Studie ist breit angesetzt. Heß bezieht insgesamt Sonderausstellungen von sieben Museen in die Untersuchung ein. Dabei wählt sie - mit dem 'Deutschen Historischen Museum Berlin', dem 'Militärhistorischen Museum Dresden', dem 'Historischen Museum der Pfalz' und dem 'Haus der Geschichte Baden-Württemberg' - vier deutsche und - mit dem 'Imperial War Museum London', dem 'Imperial War Museum North Manchester' und dem 'Cardiff Castle Museum of the Welsh Soldier' - drei britische Häuser aus. Hierbei wurden - gemäß der theoretischen Vorüberlegungen der Autorin -konsequent die "Ausstellungen als Quelle" (28-31) gelesen. Neben den Ausstellungen und ihren Inszenierungen des Krieges selbst wurden vielfältige weitere Quellen zu den einzelnen Schauen ausgewertet sowie Experteninterviews durchgeführt.

Den eigentlichen Hauptteil der Arbeit bilden die Kapitel drei bis neun, die unter der Überschrift "Der Erste Weltkrieg in Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen" zusammengefasst sind (107-284). Nach der Vorstellung der einzelnen Ausstellungen und der Herausarbeitung der jeweiligen Narrative (43-101) untersucht die Autorin in diesem Hauptteil exemplarisch herausgearbeitete Diskursstränge, die sich in den Ausstellungen wiederfinden. So beschäftigt sie sich mit den Diskursen "Deutschland und die Kriegsschuldfrage" (107-138), "Großbritannien und die Kriegsschuldfrage" (139-165), "Deutschland und die Lehren aus dem Ersten Weltkrieg" (167-175), "Großbritannien und die Bedeutung der Kriegsopfer" (177-202), "Gewalt und Grauen an der Front" (203-235) und "Leid der Zivilbevölkerung" (237-273). Jedem dieser Stränge widmet Heß ein eigenes Kapitel. Hier werden die Ausstellungsnarrative zu dem jeweiligen Diskurs vergleichend dargelegt, es schließen sich je eine Einordnung in den Forschungskontext sowie eine Analyse an. Dieses Vorgehen wirkt aufgrund des immer gleichen Aufbaus repetitiv, aber stets systematisch und auf der inhaltlichen Ebene fundiert. Ein Kapitel zum "Ersten Weltkrieg in Gedenkveranstaltungen" schließt den Hauptteil ab und stellt die Ausstellungsnarrative in einen breiteren Kontext des Handelns deutscher und britischer Regierungsvertreter im 'Centenary'.

Trotz der Breite des Materials und des Untersuchungsspektrums sei auf eine Beschränkung bei der Auswahl des Gegenstands hingewiesen. Um die Frage nach einer "Europäisierung des Gedenkens" facettenreicher beantworten zu können, müssten sicher weitere Länder und deren Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg einbezogen werden. Denn mit Deutschland und Großbritannien sind zwei Länder ausgewählt, in denen sich die Grauen des Ersten Weltkriegs vor allem mit dem Gedenken an die Westfront verbinden, wenngleich in den neueren Ausstellungen natürlich auch andere Kriegsschauplätze thematisiert werden. Dies ist aber sicherlich auch der Gattung Dissertation geschuldet, die an dieser Stelle exemplarischen Charakter hat und fundierte Erkenntnisse für Deutschland und Großbritannien liefert. Es tut der Lektüre der Arbeit auch keinen Abbruch. In jedem Fall nämlich liegt mit "Europäisierung des Gedenkens?" eine lesenswerte und materialreiche Studie zur Musealisierung des Ersten Weltkriegs im Erinnerungsjahr 2014 vor. Historikerinnen und Historiker, die sich künftig mit den (nicht nur musealen) Aktivitäten rund um das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in Deutschland und Großbritannien auseinandersetzen wollen, werden an diesem Werk nicht vorbeikommen.

Wie aber steht es nun um die eingangs von Heß aufgeworfene Frage nach einer "Europäisierung"? Die Autorin hält dazu fest, dass die Museen, die 2014 als geschichtspolitische Akteure auftraten, "eine Mahnung an die Gewalt, das damit einhergehende Leid und die nationale Opferbereitschaft waren" (309). Diese Mahnung könne zwar als Aufruf für das Aufrechterhalten des friedlichen Miteinanders in Europa gelesen werden. Die Ausstellungen haben aber letztlich "nicht dazu [beigetragen], eine Europäisierung der Geschichte des Ersten Weltkriegs [...] umzusetzen, da die nationalen Narrative [...] nicht in eine transnationale europäische Geschichte [...] eingebunden wurden. Dafür hätten die Ausstellungen den 'Krieg der Anderen' auch aus Sicht der anderen mit in ihr Narrativ einbinden müssen" (309). Der Rezensent, der zu einer ganz ähnlichen Thematik gearbeitet hat, kann Judith Heß in dieser Schlussfolgerung nur zustimmen.

Daniel Groth