Rena Schwarting: Organisationsbildung und gesellschaftliche Differenzierung. Empirische Einsichten und theoretische Perspektiven (= Organisation und Gesellschaft - Forschung), Heidelberg: Springer-Verlag 2020, XIII + 322 S., ISBN 978-3-658-32871-9, EUR 42,79
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An akademischen Qualifikationsarbeiten, die ihren Untersuchungsgegenstand als "Terra incognita" (4) ausweisen, herrscht gewiss kein Mangel. Wenn es jemand unternimmt, ein 1495 gegründetes Gericht einer organisationssoziologischen Analyse zu unterziehen, ist dies jedoch tatsächlich etwas Neues. Schließlich betrachtet die Soziologie Organisationsbildung gemeinhin als Merkmal der funktional differenzierten Moderne, weshalb ihr historischer Horizont kaum hinter das 19. Jahrhundert zurückreicht. Mit ihrer Bielefelder Dissertationsschrift, die am Beispiel des Reichskammergerichts (RKG) Organisationsbildung in einer stratifizierten vormodernen Gesellschaft untersucht, stößt die Soziologin Rena Schwarting also in eine immense Forschungslücke. Jenseits überkommener Zirkelschlüsse soll aufgezeigt werden, wie sich Prozesse organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung historisch bedingten.
Der ausgesprochen anregenden Studie, die in empirischer Hinsicht auf der reichhaltigen (rechts-)historischen Forschungsliteratur zum RKG aufsetzt, liegt die Hypothese zugrunde, die Gründung des vom Kaiserhof räumlich dislozierten Gerichts verkörpere eine Systemumstellung in der Reichsjustiz, durch die formale Organisation an die Stelle einer durch Anwesenheitskommunikation geprägten Interaktion getreten sei. Primär habe sich Rechtsprechung nicht länger an gesellschaftlich strukturierten Werten und ständischer Autorität, sondern an organisierten Mitgliedschaftsrollen und den damit verbundenen formalen und informalen Verhaltenserwartungen ausgerichtet.
Um den unwahrscheinlichen Fall von Organisationsbildung am Beginn der Neuzeit zu erklären, werden zunächst ermöglichende Beiträge anderer Funktionssysteme behandelt. Neben der Monetarisierung der Wirtschaft, der zunehmenden Verrechtlichung und dem zur Übernahme einer Mitgliedsrolle notwendigen Mindestmaß an sozialer Mobilität zähle hierzu eine funktionale Spezifizierung der Rechtskommunikation, die zu den Strukturbildungen Rechtsetzung ("Teilpositivierung" durch Reichsabschiede), Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung (Policeyordnungen) geführt habe. In Summe hätten es diese rekursiven Verdichtungen dem Reich gestattet, auf den Problemdruck einer fehlenden ständigen Rechtsprechung am Kaiserhof durch Organisationsbildung zu reagieren.
Der Hauptteil der Arbeit ist einer detaillierten Analyse der RKG-Rechtsprechung gewidmet. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist es höchst aufschlussreich, wie die Autorin Altbekanntes mithilfe soziologischer Instrumente neu interpretiert, die einzelnen empirischen Befunde formalen und informalen Strukturbildungen zuordnet und jenen Mut zum Epochenvergleich aufbringt, der Historikern häufig abgeht. In der funktionalen Trennung von politischer Spitze aus Kaiser und Reichsständen (Rechtsbindung), Kollegium (fachlich professionalisierter Leistungskern) und Kanzlei (Verwaltung) mit jeweils konfligierenden Rationalitäten macht Schwarting eine dreiteilige Organisationsstruktur aus, wie sie noch heute bei Hochschulen und Landesrundfunkanstalten begegnet. Die Entscheidungsprämissen des RKG (sprich: den weitgehend schriftlichen Kameralprozess) sieht sie formal durch eine Zweiteilung in die öffentliche Audienz und die geheime Senatsberatung als Vorder- bzw. Hinterbühne gekennzeichnet.
Informale Strukturen (Sollicitatur, Korruption) werden konsequent in die Darstellung einbezogen. Besonders interessiert sich Schwarting für die Frage, über welche Amtsträger das RKG seinen Verkehr mit den Parteien abwickelte. Schließlich sind es nach soziologischer Erkenntnis selbst in der Moderne gerade diese "Grenzstellen" (Luhmann), an denen Organisationsmitglieder mit disparaten Verhaltenserwartungen von Organisation und Umwelt konfrontiert werden. Dass sich widersprüchliche Rationalitäten in der Frühen Neuzeit besonders deutlich geltend machten, darf folglich vermutet werden. Allerdings zeichnet die Autorin das Bild einer vergleichsweise klar geregelten hierarchischen Grenzstellenstruktur, die vom Kammerrichter an der Spitze über die Prokuratoren bis zu den Boten reichte. Zudem zeige sich an den Grenzstellen sowie im internen Verkehr zwischen Assessoren und Kammerrichter eine Dominanz formaler, auf die Mitgliedschaftsrolle gerichteter Verhaltenserwartungen. Insgesamt akzentuiert Schwartings niveauvolle Studie somit die organisatorische Eigenlogik des RKG und dessen Heraushebung aus der Gesellschaft.
Barbara Stollberg-Rilinger würdigt die Arbeit im Vorwort als großen Wurf und als Musterbeispiel gelungener Interdisziplinarität, das hoffentlich Schule machen werde. Dieser Einschätzung kann ich mich nur anschließen. Die Autorin hat sich mit großer Akribie und Umsicht in die Literatur zum RKG eingearbeitet und das von Historikern viel zu selten genutzte Instrumentarium der Organisationssoziologie für die Frühneuzeitforschung fruchtbar gemacht. Am Potential, das eine soziologisch informierte Reichsgerichtsforschung im Rahmen einer epochenübergreifend konzipierten Justizforschung besäße, lässt Schwartings luzide Analyse keinen Zweifel.
In meinen Augen sollten Geschichtswissenschaft und Soziologie dieser Einladung zum Dialog auch deshalb nachkommen, weil mit Blick auf die Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft im Vergleich von Früher Neuzeit und Moderne noch viele Fragen offen sind. Die These, es habe 1495 in der Reichsjustiz eine "Umstellung" von Interaktion auf Organisation stattgefunden, scheint mir nämlich überakzentuiert. Gegen eine klare Zäsur spricht die Tatsache, dass das RKG seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert zunehmend vom Reichshofrat (RHR) überflügelt wurde, der zwar im 17. Jahrhundert seinerseits eine Formalisierung durchlief, jedoch stets in das Interaktionssystem des Kaiserhofes eingebunden blieb. Schaut man genauer hin, wird man feststellen, dass man der Zumutung eines schriftlichen Verfahrens in Wien mit einer in den Prozessakten invisibilisierten Anwesenheitskommunikation begegnete, die sich in einer Grauzone informeller Geselligkeit zwischen Räten, Hoffraktionen, Parteien und deren Agenten abspielte.
Eine Schlüsselposition nahmen hierbei die Referenten ein, die nicht nur erheblichen Einfluss auf die Reihenfolge der Bearbeitung, sondern aufgrund ihrer Aktenkenntnis auch ein informationelles Übergewicht innerhalb des Spruchkörpers besaßen. Über Jahrhunderte hinweg war die Privatwohnung der Berichterstatter deshalb eine der wichtigsten Grenzstellen des Gerichts. Dort beheimatete Interaktionen schoben Organisation und Mitgliedschaftsrolle zwar keineswegs beiseite, erlaubten es - entsprechenden Zugang vorausgesetzt - jedoch sehr wohl, prozessuale Darstellungszwänge ad hoc zu unterlaufen.
Diese Einbindung der Referenten in informelle Kontaktsysteme, die die Geschichtswissenschaft quellenbedingt vor große Herausforderungen stellen, bildete kein Alleinstellungsmerkmal des RHR, sondern lässt sich auch am RKG und an anderen frühneuzeitlichen Justizkollegien nachweisen. Gründlich delegitimiert wurde diese mikropolitische Verflechtung erst im 18. Jahrhundert durch aufgeklärte Korruptionskritik, die einer in die Moderne weisenden kommunikativen Entkopplung von Gesellschaft und Rechtssystem das Wort redete. Wichtige, spezifisch frühneuzeitliche Bruchzonen zwischen Organisation und Interaktion bleiben deshalb außer Acht, wenn man als Säulen des Kameralprozesses nur die Audienz und die Senatsberatung, nicht aber die Aktenarbeit der Referenten namhaft macht. Diese Leerstelle ist Schwarting nicht anzulasten. Man hat es vielmehr mit einem blinden Fleck der Reichsgerichtsforschung zu tun, die bislang kaum praxeologisch ausgerichtete Perspektiven auf den Prozess kollegialen Entscheidens entwickelt hat. Eine historische Organisationsforschung, wie sie die Autorin entwirft, böte den passenden interdisziplinären Rahmen, um diese und zahlreiche weitere Probleme im Epochenvergleich zu diskutieren. Für all jene, denen an neuen Perspektiven auf die frühneuzeitliche Justiz gelegen ist, bildet die Studie deshalb eine Pflichtlektüre.
Tobias Schenk