Rezension über:

Sarah Czerney: Zwischen Nation und Europa. Nationalmuseen als Europamedien (= Medien und kulturelle Erinnerung; Bd. 1), Berlin: De Gruyter 2019, XII + 382 S., ISBN 978-3-11-054850-1, EUR 99,95
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Rezension von:
Agnieszka Pufelska
Nordost-Institut, Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Agnieszka Pufelska: Rezension von: Sarah Czerney: Zwischen Nation und Europa. Nationalmuseen als Europamedien, Berlin: De Gruyter 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 2 [15.02.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/02/36723.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Sarah Czerney: Zwischen Nation und Europa

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Museumsforschung hat in den letzten Jahren eine enorme Konjunktur erlebt. Es sieht fast so aus, als habe die Beschäftigung mit musealer Praxis die vor kurzem noch unvermeidbaren Forschungsfragen zum kulturellen Gedächtnis oder zur Identitätspolitik monopolisiert. Gerade in historisch orientierten Abhandlungen werden Museen zu symbolträchtigen Erinnerungsorten erhoben und als entscheidende Vehikel der nationalen Selbstverortung untersucht. In dieser dominierenden Forschungsrichtung ist ein innovativer und über die identitätsstiftende Wirkung von Museen hinausgehender Ansatz eine wahre Seltenheit. Die vorliegende Dissertation von Sarah Czerney füllt diese Lücke zwar nicht, stellt aber den seit langem interessantesten Beitrag zur gegenwärtigen musealen Ausstellungspolitik dar, der das gesamte Spektrum von nationaler Mythenbildung bis hin zur Europäisierung von Museen kritisch reflektiert.

Erklärtes Ziel der Autorin ist es, die Frage zu erörtern, "wie aktuelle historisch ausgerichtete Museen Europa und europäische Geschichte entwerfen." (4) Diese Hauptfrage gliedert sie in zwei Unterfragen: Erstens geht sie - aufbauend auf konstruktivistischen Museumstheorien - davon aus, dass Museen Wirklichkeit und Geschichte nicht vorfinden und abbilden, sondern aktiv an ihrer Hervorbringung als Medien mitwirken (Kapitel 2). Zweitens will sie die museal konstruierten Narrative, Bilder und Topoi Europas am Beispiel von Nationalmuseen in Deutschland, Frankreich und Polen exemplifizieren (Kapitel 3). Ausgewählt hat sie das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin, das Europäische Solidarność Zentrum in Danzig (ECS) und das Musée des Civilisations de l'Europeet de la Méditerranée (MuCEM) in Marseille. Mit Blick auf deren repräsentative Rolle und europäisches Selbstverständnis ist es geschichtswissenschaftlich und gesellschaftspolitisch höchst relevant, danach zu fragen, was und wen diese Museen als europäisch zeigen. Aber vielleicht noch wichtiger sind Czerneys Fragen: Wer gehört hingegen gemäß diesen musealen Historiografien nicht zu Europa? Vor wem wollen sie die Tore der als homogen begriffenen und national differierten "Festung Europa" geschlossen halten?

Die These, wonach historische Museen die präsentierte Geschichte konstruieren und inszenieren, ist nicht gerade neu. Es scheint aber nicht die Absicht der Verfasser gewesen zu sein, neue Museumstheorien oder gar Begrifflichkeiten zu prägen. Vielmehr führt sie mit überzeugender Souveränität auf, welche museumstheoretischen Ansätze die konstruktivistische Rolle von Museen analysiert und somit auch interpretatorische Grundlagen für Museumsforschung etabliert haben. Positiv hervorzuheben ist dabei, dass Czerneys Untersuchung über die klassischen Annahmen von Museumstheoretikerinnen und Museumstheoretikern wie Krzysztof Pomian, Gottfried Korff, Sonja Neef oder James Sheehan hinausgeht und auch Analysekategorien aus den Gender und Postcolonial Studies einbezieht. "Gender, Race, Class, Religion" definiert die Autorin als "Strukturkategorien", welche die "museal produzierten Bilder und Narrative Europas und europäischer Geschichte strukturieren, regulieren und organisieren." (20)

Im Allgemeinen lassen sich Czerneys Ausführungen aus dem ersten theoretischen Kapitel wie folgt zusammenfassen: Als mediale Repräsentationen vermitteln museale Einrichtungen die kollektiven Vergangenheits- und Identitätsentwürfe als homogene Prozesse, in denen Erinnerungspraktiken, Narrative und Bilder nicht über nationale und kulturelle Grenzen hinaus reichen. Besonders in Zeiten historischer Umbrüche dienten und dienen Museen als wirkmächtige Träger kollektiver Gedächtnisse und Identitäten. Indem Museen Dinge zusammentragen, kategorisieren, ordnen und ausstellen, tragen sie dazu bei, was der Anthropologe Richard Handler "objectivation of culture" [1] nennt: Die Verdinglichung der Idee, dass Gemeinschaften von Menschen eine eigene Kultur, Geschichte oder Identität haben, deren Existenz durch den Besitz und die Ausstellung von Dingen bewiesen werden kann. Folgerichtig wohnt den versammelten Exponaten keine historische Qualität inne, vielmehr wird ihnen ein "historischer Sinn" zugesprochen, das heißt die Fähigkeit, Vergangenes in der Gegenwart präsent zu machen.

Welchen "historischen Sinn" die oben genannten Museen dem dort präsentierten Europa-Gedanken zuweisen, beschreibt Czerney in dem Hauptkapitel ihrer Studie. Dabei konzipiert sie die untersuchten historischen Nationalmuseen in Frankreich, Polen und Deutschland als "multimediale Europamedien", da sie in ihren Ausstellungen selbst mit verschieden Medien arbeiten. Als "Europamedien" bezeichnet die Autorin also sowohl die Museen selbst als auch die Dinge (Landkarten, Tabellen, PC-Stationen, Texte), die in den Dauerausstellungen Europa inszenieren. Ihre ausführliche und informative Analyse der materiellen und symbolischen Manifestationen der Europa-Idee fällt eindeutig aus: Im DHM, ECS und MuCEM werden Europa und europäische Geschichte jeweils sekundär behandelt und lediglich am Rande der Dauerausstellung thematisiert.

Obwohl der Bezug auf Europa in den Konzeptionen aller drei untersuchten Museen einen zentralen Punkt darstellt, wird die Historiografie Europas in deren Ausstellungspraktiken dem nationalen Narrativ weitgehend unterworfen. Im französischen Nationalmuseum wird Europa durch das Konzept des Mittelmeerraums abgelöst, der sich vermeintlich nur dank seiner Zugehörigkeit zur "Grande Nation" in seiner Vielfalt und Vielstimmigkeit entfalten könne. Das Danziger Zentrum erklärt dagegen die Solidarność-Bewegung zum entscheidenden Ereignis der europäischen Geschichte. Der als national verstandene Widerstand gegen das kommunistische Regime wird so zur Erzählung eines europäischen und sogar universellen Kampfes für Freiheit und Menschenrechte. In der musealen Interpretation Europas in Berlin taucht der "alte Kontinent" nicht als etwas die einzelnen Nationsgrenzen Überschreitendes auf, sondern als Nebeneinander verschiedener Nationen. Dieser Rahmen erleichtert es dann, den "besonderen" Beitrag der deutschen Nation zur europäischen Geschichte hervorzuheben.

Vor diesem Hintergrund verwundert es auch wenig, dass die analysierten Europamedien feministische und postkoloniale Perspektiven kaum aufgreifen. Wie Czerney überzeugend herausarbeitet, wird Europa in den musealen Fallbeispielen gegendert, rassifiziert und religiös markiert. "Nicht-weiße, nicht-christliche und nicht-männliche Menschen sind darin nicht Teil Europas." (343) Abgesehen von der Dauerausstellung in Marseille, die die europäische religiöse und geschlechtliche Vielfalt aufgreift, erscheinen Europa und seine Geschichte in den untersuchten Museen überwiegend als männlich dominiert, christlich geprägt und weiß positioniert.

Zweifelsohne ist diese museumskritische Reflexion die größte Stärke von Czerneys Analyse. Mit ihrem vergleichenden, prozessualen Blick auf die einzelnen Museen liefert sie einen substanziellen Beitrag zu den gegenwärtigen Diskussionen um die Rückkehr - oder besser gesagt: die konstante Vorherrschaft - des Nationalismus in Europa. Besonders überzeugend ist die Studie bei den ausgesuchten Fallbespielen, selten hat man einen ebenso detaillierten wie fundiert recherchierten Einblick in die individuelle Ausstellungspolitik der musealen Häuser präsentiert bekommen. Neuere museumstheoretische Ansätze aus der bildhistorischen Perspektive oder aus dem Bereich der material turn sind für die Verfasser dagegen kaum vom Interesse. Das von argumentativen und sprachlichen Redundanzen nicht ganz freie und Hunderte von Namen anführende Buch hätte sicherlich auch ein Personenregister verdient gehabt. Angesichts der Lesefreundlichkeit sowie in Bezug auf Hauptthesen und prägnante Narrative sollte Czerneys Abhandlung auch für ein breites Lesepublikum relevant sein.


Anmerkung:

[1] Richard Handler: Nationalism and the Politics of Culture in Quebec, Madison 1988, 14.

Agnieszka Pufelska