Petro Andreas Nungovitch: Here All Is Poland. A Pantheonic History of Wawel 1787-2010, Lanham, MD: Lexington Books 2019, XXX+ 315 S., ISBN 978-1-4985-6912-5, USD 121,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Die Handlung des Buches beginnt im Jahre 2010, als der gerade in Krakau die polnische Sprache erlernende Autor aus dem Fenster seiner Sprachschule dem Begräbnis von Maria und Lech Kaczyński beiwohnte. Die kontrovers geführten Diskussionen um diese Bestattung und ihr gigantisches Ausmaß lassen Petro Andreas Nungovitch die Frage nach den Traditionen von Beerdigungszeremonien auf dem Krakauer Schlosshügel "Wawel" stellen. Da die Begräbnisse im Fokus des Buches stehen, wird die "lebensbejahende" Dimension des Wawel-Hügels, zum Beispiel des königliches Schlosses, nur gestreift. Die Geschichte der lokalen Begräbniskunst ist allerdings sehr lebendig geschrieben, sie soll nicht nur dem Fachpublikum, sondern auch einem geschichtsinteressierten Laien zugänglich gemacht werden. Der Verfasser wertet vor allem polnisch- und englischsprachige Literatur aus, das Buch ist einem Krakauer Historiker gewidmet, der einen ähnlich popularisierenden Ansatz verfolgte: Michał Rożek.
Nungovitchs Erzählung beginnt mit der "Royalness" des Hügels, die seit jeher ihren Ausdruck in den Zeremonien gefunden hat, die in der Kathedrale stattfanden: Hier wurden polnische Könige gesalbt, und hier haben sie mehrheitlich ihre letzte Ruhestätte gefunden. Als es keinem polnischen Staat und somit auch keine polnischen Könige mehr gegeben habe (diese Aussage ist ungenau, denn sowohl russische als auch österreichische Herrscher führten entsprechende Titel, allerdings hatten sie ihre eigenen traditionsreichen Begräbnisstätten), griff man zu Beginn des 19. Jahrhundert auf zwei verdienstvolle Militärhelden - Józef Poniatowski und Tadeusz Kościuszko - zurück, um sie hier ehrenvoll zu bestatten (1817 und 1818). Mit diesen Begräbnissen ließen sich die traditionellen Zeremonien weiter fortschreiben. Danach verging ein "ereignisloses" halbes Jahrhundert, bis man in der Kathedrale durch Zufall auf die Überreste eines beliebten Königs aus dem 14. Jahrhundert, Kazimierz Wielki, stieß und ihm 1869 eine zweite feierliche Bestattung gewährte. 1890 folgte das Begräbnis eines "spirituellen Königs", das heißt des Schöpfers der polnischen Romantik, Adam Mickiewicz, der 1855 in Paris beerdigt worden war. Das eigentlich angestrebte Begräbnis des zweiten großen Vertreters der Romantik, Juliusz Słowacki, scheiterte am Widerstand des Krakauer Bischofs.
Für die minder wichtigen Kulturschaffenden wurde eine zusätzliche Nekropole in der Kirche "Auf dem Felsen" (na Skałce) eröffnet und später die Errichtung einer weiteren in der Peter-und-Paul-Kirche in der ul. Grodzka erwogen. In der Zweiten Polnischen Republik machte sich auch Józef Piłsudski 1927 für ein Wawel-Begräbnis Słowackis stark. Schließlich wurde Piłsudski selbst, als Militärheld und Wiederrichter des polnischen Staates, auf dem Wawel beigesetzt (1935), wobei man den Marschall in die romantische Tradition einreihte. Dies sollte, so legte es die kirchliche Verwaltung fest, der letzte Leichnam in der überfüllten Nekropole werden. Im Volkspolen hat man lediglich - in stiller Form - das zweite Begräbnis von Kazimierz Jagiellończyk (gest. 1492) und seiner Frau Elżbieta Rakuszanka (gest. 1505) begangen (1973). Einflussreiche Kreise aus Exil und Militär versuchten zudem, den bei einem Flugzeugabsturz vor Gibraltar getöteten ehemaligen Konkurrenten von Piłsudski, General Władysław Sikorski, auf dem Wawel zu bestatten, was jedoch in der Volksrepublik Polen scheiterte und erst 1993, in der neoliberalen Transformationsphase, realisiert werden konnte. Und wieder verging einige Zeit, bis 2010 die alten Begräbnistraditionen des bei der Katastrophe von Smolensk umgekommenen Staatspräsidentenpaars, Maria und Lech Kaczyński, belebt wurden.
Die Bestattungen markieren eine Entwicklung der Nekropole auf dem Wawel von königlichen Ruhestätten hin zu einem nationalen Pantheon. Nungovitch kreiert den Begriff "Wawelisierung" ("wawelisation", 34-37), womit er den von unterschiedlichen Akteuren geführten Aushandlungsprozess darüber meint, warum, wo und wie ein Verstorbener auf dem Wawel begraben werden soll. Dieser Diskurs spiegelt in seiner Interpretation ein elitäres Programm wider, zu dem sowohl säkulare als auch kirchliche Eliten beitragen würden. Eine Umfrage aus dem Jahr 1979 lässt an einer breiten Resonanz dieser Prozesse zweifeln: Trotz des ungeheuren diskursiven und feierlichen Aufwandes kannte die Öffentlichkeit demnach nur wenige Namen von "Wawelisierten" (223).
Die Wawel-Begräbnisse bilden die Ereignisachse, die Nungovitch in hervorragender Weise in die jeweiligen Kontexte einbettet. Anekdotisch und lebendig erzählt der Verfasser die Geschehnisse rund um die Bestattungen, stellt die Akteure und ihre Motive vor. Er gibt sowohl den Wawel-Besuchern als auch den Wawel-Erforschern eine Stimme; zitiert alte Chroniken und Legenden, aus denen diese geschöpft haben. Nungovitch bespricht detailliert und interpretiert literarische Werke und Theaterstücke, in denen die Nekropole eine Rolle spielt, und entschlüsselt die ihr zugeschriebenen Bedeutungen. Wenig Aufmerksamkeit schenkt er dagegen den bildenden Künsten, in denen der Wawel des Öfteren imaginiert wurde. Er rekonstruiert Planungen und Konzepte für die Nekropole, wobei deutlich wird, dass sich diese "ewige" letzte Ruhestätte im ständigen Wandel befand (und befindet?): Die Gräber wurden renoviert und nach zeitgenössischen Konzepten verlagert und neu geordnet, wobei innerhalb der so gebildeten Ordnungen unterschiedliche Hierarchien galten. Interessant ist, dass man dabei unterschiedliche Gegenstände entfernt und, seltener, hinzugefügt hat, je nachdem, welchem Ziel die Verstorbenen gerade dienen mussten. In knapper Form stellt der Verfasser andere Stätten auf polnischem Territorium vor, wo das "polnische Gedächtnis" an die Geschichte der eigenen Nation bewahrt werden sollte. Zu fragen wäre allerdings, ob es nicht auch in anderen Ländern (Mittel-)Europas ähnliche Stätten gab bzw. gibt, die Nungovitch mit dem Wawel in Zusammenhang hätte stellen können.
Nicht ganz im Sinne des Verfassers lese ich sein Buch eher wie einen Kriminal-, zeitweise wie einen Horrorroman (wenn z. B. diverse Leichenteile aus den Gräbern entfernt werden). Es ist gut dafür geeignet, das Interesse an (Osteuropäischer) Geschichte zu wecken und über mehr als 300 Seiten aufrechtzuerhalten. Das Werk ist erfrischend und dabei informativ geschrieben. Amüsant erscheinen die in der Zusammenfassung unternommenen Versuche, die Begräbnisse nach unterschiedlichen Modi zu ordnen. Irritierend wirkt indessen die schlampig zusammengestellte Bibliografie, die die im Text aufgeführten Werke nur unvollständig erfasst.
Hanna Kozińska-Witt