Rezension über:

Andreas Fickers / Pascal Griset: Communicating Europe. Technologies, Information, Events, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, XXII + 485 S., 91 s/w-Abb., ISBN 978-0-230-30803-9, EUR 74,89
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Rezension von:
Noyan Dinçkal
Universität Siegen
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Noyan Dinçkal: Rezension von: Andreas Fickers / Pascal Griset: Communicating Europe. Technologies, Information, Events, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/35547.html


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Andreas Fickers / Pascal Griset: Communicating Europe

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Das Buch ist Teil der aus dem internationalen Netzwerk "Tensions of Europe" hervorgegangenen Reihe "Making Europe: Technology and Transformations, 1850-2000". Es passt hervorragend in diese Serie, haben sich doch die Reihenherausgeber zum Ziel gesetzt, die Geschichte Europas aus einer materiell-kulturellen Perspektive neu zu denken und dabei die zentrale Bedeutung von Technik herauszuarbeiten. Fickers und Griset erzählen nicht von großen "Gründungsvätern", sondern von Telekommunikationsunternehmen, von Telegraphenkabeln, von Fernsehern, Piratensendern und auch vom Eurovision Song Contest und zeichnen nach, welch großen Anteil Kommunikationstechniken an der Ausformung des modernen Europas hatten. Es geht also um grenzüberschreitende Verknüpfungen in Europa, ausgelöst durch sich teils ablösende, oftmals jedoch ergänzende, nebeneinander bestehende Informations- und Kommunikationstechniken. Dementsprechend ist in dieser Abhandlung nicht nur der behandelte Zeitraum groß, sondern auch der geographische Bogen weit gespannt. Wenngleich der klassisch westeuropäische Blickwinkel mit dem Fokus auf Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland dominiert, ist es erfrischend, dass auch die entsprechenden Entwicklungen beispielsweise in der Sowjetunion oder den skandinavischen Ländern berücksichtigt werden.

In den ersten beiden Kapiteln des chronologisch gegliederten Werkes stehen die Telegraphie, Telefonie und Anfänge der drahtlosen Kommunikation im Mittelpunkt, wobei sich die Autoren in einem ersten Schritt der Frage zuwenden: "Who is in Charge?" (13). Es geht, in anderen Worten, um das zwischen Konkurrenz und Kooperation oszillierende Verhältnis von Staat und privaten Unternehmen in der Etablierungsphase moderner Kommunikationssysteme. Daran anknüpfend zeigen die Autoren, wie sich einzelne europäische Staaten (speziell Großbritannien, Deutschland und Frankreich) gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Rivalität zueinander verstärkt in die Telegraphie einschalteten, nicht zuletzt getrieben durch militärische und geopolitische Erwägungen zur Absicherung kolonialer Eroberungen. Im dritten Kapitel widmen sich Fickers und Griset der Standardisierung und Regulierung der drahtlosen Telegraphie, des Rundfunks und des Fernsehens. Dieses Kapitel zeigt eindrucksvoll die verborgenen Verfahren einer europäischen Zusammenarbeit, etwa am Beispiel des Internationalen Telegraphenvereins, der über seine Kernfunktionen (wie die Herstellung von Kabelverbindungen und die Schaffung technischer Normen) hinaus in erheblichem Maße eine institutionalisierte europäische Kooperation und die Tradition einer expertenbasierten Regulierung etablierte.

In Kapitel vier stehen medial vermittelte Erfahrungen von Europa im Vordergrund. Dabei widmen sich die Autoren ausführlich den symbolischen Dimensionen von Technik und, anhand von Fallbeispielen, die von Morse-Zeichen bis zum paneuropäischen Projekt der Eurovision reichen, den Prozessen, die ein Gefühl der Europäizität transportierten. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass hier auch die Interaktion von Technik und ihren Nutzerinnen und Nutzern thematisiert wird. Das fällt umso mehr ins Auge, als in den vorhergegangenen Abschnitten diese kaum als individuelle Akteure auftreten. Tatsächlich sticht in dieser Beziehung das fünfte Kapitel heraus. Dort erörtern Fickers und Griset detailreich auch die nichtintendierten, eigensinnigen und zuweilen auch subversiven Aneignungsformen, etwa durch das Konsumieren westlicher Rundfunkprogramme in Osteuropa, Piratensender oder schlicht Cyberkriminalität.

Kapitel sechs und sieben behandeln die Digitalisierung und die unterschiedlichen Wege, die europäische Gesellschaften bei der Informationsverarbeitung einschlugen. Im Zentrum steht die staatliche Förderung vor allem in der Phase der Protodigitalisierung und die stärker als zuvor auf die politischen und wirtschaftlichen Erfordernisse des Kalten Krieges ausgerichtete Forschung. Besonders erhellend ist der vergleichende Blick auf die Nachkriegsinformatik in Deutschland, Frankreich, Finnland, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Polen. Letztlich, so das Fazit, blieben seit den 1990er Jahren viele europäische Unternehmen im Feld der Informations- und Kommunikationstechniken trotz herausragender Innovationen international selten wettbewerbsfähig. Das letzte Kapitel wirft einen Blick erstens auf neue Formen der Medienmobilität seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert und zweitens auf die Narrative rund um Kommunikationstechnik, die sich vorzugsweise in einer "Rhetoric of Newness" (359) erschöpften, die seit der Telegraphie nicht nur die Geschichte der Kommunikationstechniken selbst, sondern auch ihre Geschichtsschreibung zu begleiten scheint.

Wenn die Autoren am Ende ihres Fazits davor warnen, dass politische Verzagtheit und wirtschaftliche Schwäche Europa daran hindere, den immensen technopolitischen Einfluss der USA einzudämmen, drängt sich der Verdacht einer letztlich affirmativen Europageschichte auf. Und es mag sich das Gefühl einschleichen, dass hier eine klassische Erzählung aufgewärmt wird, die von zunehmender Vernetzung, Kooperation sowie Integration berichtet, nur dass in diesem Fall Kommunikationstechniken statt der üblichen Akteure auf den Plan treten. Dass unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu Medien, geschlechtergeschichtliche Aspekte oder postkoloniale Kontexte kaum eine Rolle spielen, verstärkt diesen Eindruck. Doch trotz dieser blinden Flecken ist die Sicht der Autoren eine gänzlich andere und die Befürchtung, hier würde letzten Endes eine teleologisch geglättete Erfolgsgeschichte präsentiert, ist unbegründet. Immer wieder verweisen die Autoren nachdrücklich auf die Widersprüche und Ambivalenzen der Implementierung und Nutzung von Kommunikationstechniken, immer wieder zeigen sie überzeugend ihre nicht nur integrierenden, sondern auch trennenden Effekte auf, und zuweilen kämpfen sie auch mit der Unschärfe des Begriffs "Europa". Letztlich gelingt es Fickers und Griset in dieser unbedingt empfehlenswerten und durch zahlreiche Abbildungen ergänzten Arbeit nicht nur zu zeigen, dass Informations- und Kommunikationstechniken eine wichtige Rolle in der europäischen Geschichte spielten, sondern dass diese darüber hinaus das moderne Europa mit hervorbrachten - ein überaus lehrreicher und überfälliger Perspektivwechsel.

Noyan Dinçkal