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Alexander Schejngeit: Moskaus Fenster zur Welt. Die Nachrichtenagentur TASS und die Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion, 1918–1941 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas; Bd. 54), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 276 S., 19 s/w-Abb., 30 Tbl., ISBN 978-3-412-52186-8 , EUR 49,00
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Rezension von:
Norman Domeier
Karls-Universität Prag
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Norman Domeier: Rezension von: Alexander Schejngeit: Moskaus Fenster zur Welt. Die Nachrichtenagentur TASS und die Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion, 1918–1941, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/36109.html


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Alexander Schejngeit: Moskaus Fenster zur Welt

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Die beeindruckendsten Fakten werden in dieser wichtigen Medien- und Organisationsgeschichte von Alexander Schejngeit ganz unaufgeregt dargeboten: Ab dem Sommer 1937 war die sowjetische Nachrichtenagentur TASS weitgehend arbeitsunfähig, denn beinahe alle Korrespondenten waren nach Moskau zurückgerufen und ermordet worden. Auch in der TASS-Zentralredaktion wütete der 'Große Terror' Stalins. Der langjährige TASS-Chef Jakov Doleckij (1921-1937) nahm sich wahrscheinlich beim Eintreffen der Geheimpolizei in seiner Wohnung das Leben. Von allen sowjetischen Auslandskorrespondenten überlebte anscheinend nur Ilja Ehrenburg diesen Zeitraum.

Dass die Massenmorde Stalins große Teile der Diplomatie und Militärführung hinwegfegten, ist bekannt. Aber auch beinahe alle wichtigen Akteure der sowjetischen Massenmedien wurden wegen bürgerlicher Herkunft, Weltläufigkeit und selbstbestimmten Engagements in der Frühphase des Bolschewismus liquidiert. Stalin habe, so Schejngeit, "bei der Vernichtung der 'fünften Kolonne' offensichtlich in Kauf [genommen], dass informationelle und wissensspezifische Grundlagen der sowjetischen Auslandsanalyse fast komplett zerstört wurden", was mit einer Lähmung der diplomatisch-journalistischen Kommunikation und einer "beispiellosen Abkapselung von der Außenwelt" bis 1939/40 einherging. Nach 1937/38 funktionierten nur noch die TASS-Büros in New York, London, Paris, Prag und Tokio. Der spätere TASS-Chef Nikolaj Palgunov (1943-1960) musste zwei Jahre lang allein und ohne Etat aus Paris berichten. Er war 1939 derart verzweifelt, dass er der TASS-Zentrale in Moskau vorschlug, auch "den Rest des Korrespondentennetzes im Ausland zu liquidieren" (110).

Schejngeit liefert einen soliden Überblick und nimmt die Entstehung der TASS aus der russischen Telegraphenagentur ROSTA und ihre Führungskader in den Blick, neben Doleckij auch Jakov Chavinson (1937-1943), der 1937 die Beseitigung seines Vorgängers und die 'Säuberung' der TASS durchführte. Am Beispiel des Berliner TASS-Büros werden die Auswirkungen dieses gewalttätigen Generationenwechsels drastisch vor Augen geführt. Während der Berliner TASS-Chefkorrespondent Ippolit Sitkovskij auch im frühen 'Dritten Reich' sehr gut vernetzt blieb und zahlreiche Quellen abschöpfen konnte, brach erst 1937 mit seiner Abberufung und Hinrichtung in Moskau das politisch-journalistische Informantennetzwerk in NS-Deutschland zusammen. Die nachfolgenden Korrespondenten Filippov und Lavrov waren schlecht ausgebildet, sprachen kaum Deutsch und verschanzten sich im Berliner Büro, wo sie mit Hilfe ihres Deutschlehrers die heimische Presse zu verstehen suchten. Die Angst vor politischen Fehlern steigerte sich an allen Standorten zu einer regelrechten Todesangst, obwohl die neue TASS-Generation wie gewünscht aus Bauern- und Arbeiterfamilien stammte und von keiner bürgerlich-kosmopolitischen Herkunft mehr 'angekränkelt' war. Beantwortet wurde mit den Massenmorden 1936-1938 auch der interne Dauerkonflikt um die Ausrichtung der TASS auf einen Informationsjournalismus nach internationalen Standards oder einen Meinungsjournalismus, was hier 'reine' Sowjetlehre und Propaganda bedeutete.

Schejngeit hat viele staatliche Moskauer Archivdokumente ausgewertet. Memoiren und persönliche Nachlässe, die mehr Aufschluss über die Einzelakteure geben würden, liegen bis auf jene von Palgunov und Kraminov, die die Stalin-Ära überlebten, offenbar nicht vor. Hier zeigt sich quellenmäßig eine gewaltige Kluft etwa zu den amerikanischen Kollegen der TASS-Journalisten, von denen Dutzende Memoiren und Nachlässe aus der damaligen Zeit überliefert sind.

Obgleich auch Diktaturen unter ständigen Legitimationszwängen nach innen und außen stehen, wie Schejngeit zu Recht betont, war die sowjetische Herrschaftselite weitgehend der Adressat von TASS. Der 'normale Leser' findet sich nur als appellative Instanz in den Herrschaftsdiskursen. Selbst der langjährige und gut vernetzte TASS-Chef Jakov Doleckij musste ständig um Zugänge zum Herrschaftswissen antichambrieren, etwa zu den Beschlüssen des Politbüros. Dadurch schwebten auch bis 1937 viele tagesjournalistische Tätigkeiten der TASS-Zentralredaktion in Moskau in einem ideologisch luftleeren Raum, was immer wieder zu internen und externe Konflikten mit allen möglichen Funktionsträgern führte, ein Zustand, den Stalin offenbar bewusst nicht ändern wollte. Der Diktator betrieb, wie Schejngeit in einem sehr aufschlussreichen Kapitel darstellt, Politik viel stärker als Pressepolitik als bisher gedacht. Auch hier zeigt sich eine Ähnlichkeit zu Hitler, über dessen ebenfalls sehr aktive Pressepolitik allerdings bisher nur wenig bekannt ist [1]. Wie Hitler ein Vielleser seit jungen Jahren, rezipierte Stalin TASS-Bulletins, versah diese mit Marginalien und intervenierte immer wieder persönlich, um in der sowjetischen Binnenöffentlichkeit wie auch der Weltöffentlichkeit bestimmte Wirkungen zu erzielen.

Leider haben sich auch Fehleinschätzungen in die Studie eingeschlichen, etwa dass mit der Machtübernahme Hitlers 1933 "die Pressezensur gegen die Auslandskorrespondenten in Berlin drastisch verschärft wurde" (123). Tatsächlich gab es für ausländische Radiokorrespondenten bis zum Kriegsbeginn im September 1939 und für ausländische Zeitungs- und Agenturjournalisten bis zum Sommer 1942 keine Vorzensur im deutschen Herrschaftsgebiet. Auch die Aussage, dass in der "Zwischenkriegszeit" (in Mitteleuropa immerhin 1918 bis 1939) eine "wirkliche zensurfreie Berichterstattung [...] lediglich aus London, Paris, Stockholm und Genf" möglich gewesen sei, stimmt keinesfalls (123). Neben den internationalen, meist neutralen Nachrichtenumschlagplätzen spielte Berlin als Medienstandort bis 1945 eine Schlüsselrolle in der globalen Nachrichtenkommunikation.

Für weitere Forschungen hochinteressant erscheinen die von Schejngeit nur ansatzweise untersuchten TASS-Büros in London unter Andrew Rothstein und New York/Washington unter Kenneth Durant. Sie überstanden den 'Großen Terror' unbeschadet und blieben durchgängig funktional, was nicht zuletzt der Merkwürdigkeit geschuldet war, dass etwa im TASS-Büro New York bis 1939 ausschließlich amerikanische Staatsbürger arbeiteten. Dies ist ebenso erklärungsbedürftig wie der offenkundig große Einfluss von Durant und vor allem von Rothstein auf politische Einschätzungen in Moskau bis hin zu Stalin selbst, die beiden eine Art sakrosankten Status garantierten. Während alle anderen sterben mussten, fungierten sie als zentrale journalistisch-politische Akteure in beide Richtungen, für Herrschaftswissen nach Moskau und von dort nach Großbritannien und in die USA.

Alexander Schejngeit ist eine hervorragende Medien- und Organisationsgeschichte der TASS gelungen, die streckenweise als geradezu perplexe Vernichtungsgeschichte zu lesen ist; und dies alles in den Jahren, als andere Nachrichtenagenturen wie etwa Associated Press (AP) professionell, technisch und materiell expandierten und sich den gesamten Globus medial erschlossen. An sein Buch werden noch viele weitere Studien zur globalen Verflechtung des sowjetischen Mediensystems anknüpfen können.


Anmerkung:

[1] Norman Domeier: Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im "Dritten Reich", Göttingen 2021, 107-121.

Norman Domeier