Julian Faust: Spannungsfelder der Internationalisierung. Deutsche Unternehmen und Außenwirtschaftspolitik in Indien von 1947 bis zum Ende der 1970er Jahre (= Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa/ Economic and Social History of Modern Europe; Bd. 9), Baden-Baden: NOMOS 2021, 468 S., ISBN 978-3-8487-8175-1, EUR 99,00
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In der auf seiner Dissertation basierenden Monografie untersucht Julian Faust die Erwartungen, Motive und Strategien (west-)deutscher Unternehmen in Indien. Er verbindet diese Analyse mit einem Fokus auf Verbindungen zwischen Unternehmensinteressen und der Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik der Bundesrepublik. Die Studie umfasst den Zeitraum zwischen der indischen Unabhängigkeit (1947) und den einsetzenden Liberalisierungsprozessen in der indischen Wirtschaftspolitik (um 1980). Die zentralen Fallstudien bilden drei große Unternehmen: BASF, Bayer und Bosch, womit die für den Kontext deutsch-indischer Wirtschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert besonders wichtigen Branchen der chemischen Industrie und Automobilindustrie abgedeckt werden.
Nach zwei einleitenden Kapiteln, die die Konzeption der Arbeit erläutern (Kapitel 1) und über wirtschaftliche und politische Grundbedingungen in der Bundesrepublik und Indien aufklären (Kapitel 2), ist das Buch im weiteren Verlauf in zwei chronologische Abschnitte geteilt: 1947-1965 (Kapitel 3 und 4) und 1966-1980 (Kapitel 5 und 6). Die erste der beiden Phasen war geprägt von (Re-)Internationalisierungsbestrebungen der deutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und indischen Entwicklungs- und Industrialisierungsplanungen im Dekolonisationsprozess. Die Bundesrepublik sah sich als Repräsentantin des "Westens" im dezidiert blockfreien Indien, und Indien wurde richtungsweisend für die Konzeption deutscher "Entwicklungshilfe" im Kalten Krieg. Wie Faust zeigt, traten Unternehmen dort als wichtige Akteure auf, wurden finanziell und diplomatisch unterstützt und hatten ihrerseits wiederum "Einfluss auf die Ausgestaltung der Entwicklungspolitik und ihrer Instrumente der Kapitalhilfe und technischer Hilfe" (267).
Es waren nicht rasche Gewinne oder gar Produktionskostensenkungen, sondern die Erschließung eines wachstumsintensiven Marktes, die deutsche Unternehmensstrategien antrieb. Unternehmen und Politik sahen Indien als "Zukunftsmarkt" und bewiesen dadurch bei ihren Entscheidungen einige Weitsicht. Ausgehend von Exportgeschäften waren die untersuchten Unternehmen jeweils recht früh auch über Direktinvestitionen in Indien aktiv. Dabei ergaben sich einige Risiken, die es abzuwiegen galt. Indiens Wirtschaftssystem war sozialistisch orientiert, Unternehmen mussten sich in diesem Ordnungsrahmen bewegen. Hier präsentiert die vorliegende Studie eine ambivalente Position der Unternehmen. Einerseits wurden ihre Technologien in Indien gebraucht, wodurch sich die Unternehmen eine gewisse Verhandlungsmacht aufbauen konnten; andererseits ergaben sich durch scharfe Regulationen große Unsicherheiten und Abhängigkeiten von politischem Wohlwollen und guten Netzwerken.
Diese Aushandlungsprozesse wurden in der zweiten Phase (1966-1980) fortgeführt, wobei ausländische Unternehmen nun unter stetig schwierigeren Bedingungen operierten. Produktionslizenzen der indischen Regierung wurden nur noch für fünf Jahre genehmigt und auch die mittlerweile gefestigte Position der untersuchten Unternehmen in der indischen Wirtschaft schützte nicht vor diesem Druck. Die Unternehmen mussten zunehmend beweisen, dass sie zur indischen "Entwicklung" beitrugen. Faust untersucht hierbei auch Prozesse des Wissens- und Technologietransfers. Die deutsche Herkunft der Unternehmen konnte dabei von Vor- oder Nachteil sein. Zentral für die gesamte Studie ist in diesem Zusammenhang das Konzept der "Liability of Foreignness" [1]. Man war sich der potenziell nachteiligen Bedeutung des Deutschseins bewusst und betonte, vor allem in der schwierigen Phase der 1970er Jahre, in Verhandlungen mit der Regierung den Anteil indischen Personals im Management der Auslandstochter. Generell kam den Unternehmen ihre deutsche Herkunft aber oft zugute und wurde gezielt in der Kommunikation eingesetzt, etwa um sich von unbeliebteren, britischen Unternehmen abzusetzen oder den guten Ruf "deutscher Qualität" auszunutzen. Politische Beziehungen, hauptsächlich im Rahmen der bilateralen Entwicklungspolitik, ergänzten die Interessen der Unternehmenskooperationen - und umgekehrt. So wurden Unternehmenskooperationen zu positiven Beispielen deutscher "Entwicklungshilfe" (426 f.).
Julian Faust gelingen, nicht zuletzt durch die Verwendung des Konzepts der "Liability of Foreignness", interessante Verknüpfungen verschiedener Forschungsfelder. Durch die Diskussion der gegenseitigen Einflussnahme von Entwicklungspolitik und Unternehmenspolitik verweist die Studie auf die große Bedeutung von Unternehmen als Akteuren. Sie ist damit ein wichtiger Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit "Entwicklungshilfe" in Indien [2]. Sich selbst verortet das Buch zunächst in der deutschen Unternehmensgeschichte, indische Primärquellen werden eher vereinzelt herangezogen. Während die Arbeit eingehend zeigt, welche Prozesse in der indischen Wirtschaft die Unternehmensaktivitäten beeinflussten, bleibt die Frage, "wie die Unternehmen und außenwirtschaftspolitischen Interessen der Bundesrepublik auf Entwicklungs- und Dekolonisationsprozesse des unabhängigen Indiens einwirkten" (25) nur mit einer gewissen Einschränkung beantwortbar. Da sich historische Arbeiten zu bilateralen Wirtschaftsaktivitäten in Indien bislang stark auf britische Quellen beziehen [3], ist ein Beitrag wie dieser gleichwohl besonders wünschenswert. Die vorliegende Studie bringt gerade durch die Konzentration auf Indien eine frische Perspektive in den Diskurs um deutsche Unternehmen in Internationalisierungsprozessen [4], da auf diese Weise den unternehmensinternen Entscheidungsprozessen als Reaktionen auf lokale Gegebenheiten viel Raum gegeben werden kann.
Der Autor hat sich, zusätzlich zur eigenen Quellenarbeit in Unternehmens-, Wirtschafts- und staatlichen Archiven, mit einer beeindruckenden Menge an Sekundärliteratur beschäftigt. In zahlreichen Verweisen schaut er über die Grenzen seines eigenen Projekts hinaus und bettet seine Ergebnisse stets in anknüpfende Themenkomplexe ein. Besonders durch Bezugnahme auf Unterlagen aus den Konzernarchiven von VW und BMW bleibt die Beleuchtung der möglichen Spannungsfelder, die sich während der Internationalisierung ergeben konnten, ausgeglichen, da die Erfahrungen dieser beiden Unternehmen deutlich von den anderen Fallstudien abwichen. Diese Hinzuziehung weiterer Perspektiven unterstreicht den Charakter der Studie als einer differenzierten, gründlich bearbeiteten Untersuchung, deren Ergebnisse für Diskurse um multinationale Unternehmen, globale Wirtschaftspolitik und deutsche Unternehmen in der Welt nach 1945 große Relevanz haben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. auch: Christina Lubinski: Liability of Foreignness in Historical Context: German Business in Preindependence India (1880-1940), in: Enterprise & Society 15 (2014), 722-758.
[2] Vgl. beispielsweise: Corinna R. Unger: Entwicklungspfade in Indien. Eine internationale Geschichte 1947-1980, Göttingen 2015.
[3] Zum Beispiel: Michael Aldous / Tirthankar Roy: Reassessing FERA: Examining British firms' strategic responses to 'Indianisation', in: Business History 63 (2021), 18-37; Prithwiraj Choudhury / Tarun Khanna: Charting Dynamic Trajectories: Multinational Enterprises in India, in: Business History Review 88 (2014), 133-169.
[4] Zum Beispiel: Elfriede Grunow-Osswald: Die Internationalisierung eines Konzerns. Daimler-Benz 1890-1997, Vaihingen 2006; Annika Biss: Die Internationalisierung der Bayerischen Motoren Werke AG. Vom reinen Exportgeschäft zur Gründung eigener Tochtergesellschaften im Ausland 1945-1981, Berlin / Boston 2017.
Josefine Hoffmann