Helen Roche: The Third Reich's Elite Schools. A History of the Napolas, Oxford: Oxford University Press 2022, XX + 524 S., ISBN 978-0-19-872612-8, GBP 90,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Am 20. April 1933, dem Geburtstag Adolf Hitlers, "schenkte" der künftige Reichserziehungsminister Bernhard Rust dem "Führer" die ersten drei Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA, umgangssprachlich Napola). Bis zum Untergang des 'Dritten Reichs' wurden mehr als 40 Internatsschulen - davon eine Handvoll für Mädchen - errichtet, aus denen künftig ideologisch sattelfeste Führungskräfte für Partei, Staat, SS und Wehrmacht hervorgehen sollten. Die britische Historikerin Helen Roche hat nun die erste umfassende Studie über diese nationalsozialistischen Erziehungseinrichtungen vorgelegt, in denen die politische und rassische Elite des Landes geformt werden sollte.
In der Einleitung konstatiert die Autorin die geringen Kenntnisse über die Napolas: "perhaps it is unsurprising, then, that even in Germany, few today are fully aware of the role which the NPEA played in the third Reichs machinery of political and racial domination - or even that they existed at all." (2) Daraus leitet sie ihre Forschungsfrage ab: "So, what exactly were the NPEA, and why did they matter - why, indeed, should they matter to us now?" (3) Dieser Frage geht die Autorin auf der Grundlage einer beeindruckenden Quellenbasis nach. Sie hat Dokumente aus mehr als 80 Archiven zusammengetragen und zusätzlich mehr als 100 ehemalige Schülerinnen und Schüler befragen können. Ihre Arbeit hat sie in drei Hauptkapitel gegliedert. Im ersten Kapitel ("Genesis") gibt Roche einen Überblick über die Gründung und Verwaltung der Schulen innerhalb der polykratischen Machtstrukturen des NS-Staats und beleuchtet die Auswahl des Personals sowie die Selektion und den militärisch geprägten Alltag der Schüler von Unterrichtsmethoden und Lehrinhalten bis hin zu außerschulischen Aktivitäten wie Geländespielen, Bergwerkseinsätzen, Schüleraustausch, Grenzlandaktivitäten oder dem Besuch von Ghettos in Osteuropa. Besonders interessant ist dabei der von Roche geschilderte zunehmende Einfluss Heinrich Himmlers und seiner SS, die sich auch immer stärker bei der Selektion der zukünftigen Zöglinge sowie bei ideologischen Fragen im Unterricht einbrachte. Die SS verstand die NPEA zunehmend als Kaderschmiede und ideales Experimentierfeld für eine "hyper-selective 'auserlesene' Volksgemeinschaft". (6) Einen weiteren Fokus legt die Autorin auf den Schüleraustausch, der mehrheitlich mit den preparatory schools in den USA und den public schools in Großbritannien stattgefunden habe. Sie unterstreicht den propagandistischen Erfolg dieser Unternehmungen durch die jungen deutschen Kulturbotschafter. Roche resümiert, dass sowohl die ideologische wie auch die militärische Indoktrination "more successfully, and for far longer, than most other Nazi educational institutions" (110) war und bei den Absolventen die Tendenz verstärkt habe "to act violently towards those deemed to be 'enemies' of the regime during wartime, even if direct proof of such tendencies would be less easy to find". (100)
Im zweiten Kapitel ("Variety within Unity") arbeitet Roche dann die Unterschiede zwischen den Napolas, die teils auf eine jahrhundertealte Tradition blicken konnten, heraus, beleuchtet unter anderem die Diskrepanzen zwischen den preußischen Napolas und denen anderer Länder des sogenannten Altreichs sowie den Weg der Vereinheitlichung. Es ist das erklärte Anliegen der Autorin, die Besonderheiten der zahlreichen Anstalten sichtbar zu machen, die in der Forschung bislang zu stark vernachlässigt worden sind: So waren die ersten drei Napolas - Hitlers "Geburtstagsgeschenk" - ehemalige Preußische Kadettenanstalten, die nach dem Ersten Weltkrieg in zivile staatliche Bildungsanstalten umgewandelt wurden. Weitere NPEA-Gründungen standen in religiöser oder humanistischer Tradition wie etwa Schulpforta. Auf den "Anschluss" Österreichs folgte die Napolaisierung der österreichischen Bundeserziehungsanstalten (hier entstanden auch die Mädchen-Napolas) sowie während des Zweiten Weltkriegs die Umwandlung von Bildungseinrichtungen in den annektierten Gebieten im Westen und Osten. Roche arbeitet sehr überzeugend das ambivalente Verhältnis von Tradition und Neuartigkeit dieser Schulen heraus, die polykratischen Machtrangeleien der verschiedenen beteiligten Institutionen, den antichristlichen Kurs der NPEA-Führung, das Ringen um die Rolle der Frau am Beispiel der Mädchen-Napolas sowie die zentrale Funktion (Gewinnung von "Volksdeutschen" oder Jugendlichen "wertvollen" Bluts zur Germanisierung) der Schulen in den annektierten Ostgebieten zur Realisierung der nationalsozialistischen Utopie.
Das dritte Kapitel ("Nemesis") stellt Schüler und Schulen während der Endphase des Kriegs und nach Kriegsende in den Mittelpunkt. Roche zeigt, dass trotz des zunehmend allgegenwärtigen Mangels an Personal wie Material und des Einsatzes der Schüler etwa als Flakhelfer oder bei der Kinderlandverschickung viele "Jungmannen" fanatisch an den Endsieg glaubten und dafür kämpften. Nach der bedingungslosen Kapitulation konnten nicht alle Schüler sofort ihre Schullaufbahn wiederaufnehmen; in einigen Regionen wurde ihnen zunächst der Schul- beziehungsweise Hochschulbesuch verwehrt. Doch sei es ihnen mit Hilfe einer Nachkriegslegende rasch gelungen, sich zu exkulpieren, indem sie die Schulen ex post entpolitisierten.
Insgesamt leistet Roche mit ihrer quellengesättigten, die zahlreichen Einzelstudien einbindenden und interessant geschriebenen Gesamtgeschichte über die NPEA nicht nur einen gewichtigen Beitrag zur Historischen Bildungsforschung, sondern bietet darüber hinaus mit ihrer Fallstudie zentrale Einblicke in zahlreiche zeitgeschichtliche Forschungsthemen wie etwa den verheißungsvollen Begriff "Volksgemeinschaft", die polykratische Konkurrenz von Institutionen, das Ringen um die Einbindung von Frauen bei Führungsaufgaben, die Bedeutung der Kirche und damit auch die Frage nach der Deutung des Nationalsozialismus als politische Religion, die Erbgesundheitspolitik, aber auch die Germanisierungspolitik und die Errichtung einer Neuen Ordnung.
Dass eine so umfangreiche Arbeit auch einige Frage offenlässt und nicht auf alle Aspekte eingehen kann, liegt auf der Hand. So hätte sich die Rezensentin ein stärkeres Herausarbeiten der häufig postulierten Vorbildrolle der public schools für die Napolas gewünscht. Worin lagen konkret Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Napolas und public schools? Können eine Auseinandersetzung damit oder sogar ein diesbezüglicher Ideentransfer bei den Inspekteuren der NPEA nachgewiesen werden? Und wie wurde eigentlich der Widerspruch von der angeblichen Schwäche Großbritanniens und der Vorbildrolle einer Erziehungseinrichtung aufgelöst, aus der zahlreiche hochrangige Führungskräfte des Empire hervorgingen? In Bezug auf die Dominanz der Fahrten nach Großbritannien und die USA, aber auch hinsichtlich der Feststellung, dass Schüler aus der "middle-class" (4) in den Napolas vorherrschend waren, hätte die Rezensentin gerne gewusst, auf welcher Quellenbasis die Autorin zu diesen Befunden kommt, ist doch gerade letzterer Feststellung die zentrale Frage nach der Verheißung sozialer Mobilität inhärent. Ein letzter Punkt setzt bei der Behauptung Roches an, dass bis heute kaum jemand von der Existenz dieser Schulen wisse. Gerade durch den Film "Napola - Elite für den Führer" (2004) - den die Autorin leider nur kurz im Hinblick auf die Ablehnung durch die ehemaligen "Jungmannen" thematisiert - sind die Napolas aber durchaus ins kollektive Gedächtnis gerückt. Der Film über das "NS-Hogwarts" gehört mittlerweile zum üblichen Kanon an deutschen Schulen, sodass eine stärkere Auseinandersetzung mit der im Film dargestellten Welt im Vergleich zu den Erkenntnissen der Autorin wünschenswert gewesen wäre.
Anmerkung:
[1] Heinrich Ammerer: Filmanalyse. Arbeitsblätter für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht, Schwalbach 2016, 27. Vgl. dazu auch www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26105 [25.2.2022].
Jana Wolf