Rezension über:

Tanja Kipfelsperger: Die Associationsanstalt Schönbrunn und der Nationalsozialismus. Die Konfrontation einer katholischen Pflegeanstalt mit Zwangssterilisierung, "Euthanasie"-Maßnahmen und "Klostersturm", München: Utz Verlag 2021, 477 S., ISBN 978-3-8316-4744-6, EUR 64,00
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Rezension von:
Moritz Fischer
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Moritz Fischer: Rezension von: Tanja Kipfelsperger: Die Associationsanstalt Schönbrunn und der Nationalsozialismus. Die Konfrontation einer katholischen Pflegeanstalt mit Zwangssterilisierung, "Euthanasie"-Maßnahmen und "Klostersturm", München: Utz Verlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/36197.html


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Tanja Kipfelsperger: Die Associationsanstalt Schönbrunn und der Nationalsozialismus

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Forschungsarbeiten über die nationalsozialistischen Medizinverbrechen, insbesondere die der Zwangssterilisation und der "Euthanasie"-Morde, füllen mittlerweile ganze Bibliotheksregale. Bahnbrechende neue Erkenntnisse zu Organisation und Ablauf der "Aktion T4" sind vorerst nicht mehr zu erwarten. In den letzten Jahren richtete sich der Blick daher zunehmend auf die regionale und lokale Ebene des Geschehens sowie auf Opfer und Täter der Verbrechen. Ein Forschungsdesiderat stellen dabei nach wie vor die Anstalten in katholischer Trägerschaft dar - und das, obwohl die katholische Kirche zu den bedeutendsten Institutionen des deutschen Gesundheitswesens gehörte. 1939 waren ein Sechstel aller Plätze der Heil- und Pflegeanstalten in ihrem Besitz, in denen die dort tätigen Ärzte und das Hilfspersonal beinahe täglich mit dem Spannungsverhältnis von staatlichem Machtanspruch und christlichem Selbstverständnis konfrontiert waren [1].

Die Ärztin Tanja Kipfelsperger beschäftigt sich in ihrer medizinhistorischen Dissertation mit einem Sonderfall: der katholischen Associationsanstalt Schönbrunn bei München. Die Einrichtung war 2006 in den Blick der Öffentlichkeit geraten, als der Journalist Markus Krischer in seinem Buch "Kinderhaus" die Verstrickung des Hauses in die "Euthanasie"-Morde nachwies. Zugespitzt lautete der Vorwurf, dass der Anstaltsleiter Josef Steininger in Kooperation mit der Stadt München die Verlegung (und damit Ermordung) seiner Patienten vorsätzlich betrieb, um seine Anstalt vor der Beschlagnahmung zu bewahren. Nach Kriegsende hatten sich Steininger und die Anstalt bemüht, dieses Kapitel ihrer Geschichte als Akt des Widerstands umzudeuten [2]. Aufgrund des gestiegenen Interesses an Schönbrunn - auch wegen der Tätigkeit des späteren Präsidenten der Bundesärztekammer Hans Joachim Sewering in Schönbrunn - machte die Kongregation der Barmherzigen Schwestern ebenfalls 2006 in Kooperation mit dem Archiv des Erzbistums München und Freising (AEM) die Akten für die Forschung zugänglich [3]. Auf Grundlage dieses Quellenkorpus rekonstruiert Tanja Kipfelsperger die Geschichte der Anstalt zwischen 1933 und 1945, wobei auch die Nachkriegszeit eine Rolle spielt. Der Fokus liegt dabei auf den Folgen des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und den NS-"Euthanasie"-Maßnahmen.

Als Leser fühlt man sich in dem 477 Seiten umfassenden Werk teilweise verloren, was vor allem an der eigenwilligen Gliederung liegt. Ein Überblick über die "Euthanasie" im Nationalsozialismus findet sich in der Einleitung noch vor dem Forschungsstand und dem Quellenüberblick. Obwohl sich die Arbeit an der Chronologie der Ereignisse orientieren soll, schildert die Autorin im Anschluss daran das allgemeine Verhältnis der katholischen Kirche zur "Euthanasie" und thematisiert auch deren Protest dagegen. Dabei beleuchtet sie getrennt voneinander das Verhalten des deutschen Episkopats und des Münchner Oberhirten Michael Kardinal von Faulhaber, obwohl dessen Meinung und Handeln konstitutiv für das Vorgehen aller deutschen Bischöfe war. Dieses konzeptuelle Grundproblem führt nicht nur zu Defiziten bei der Darstellung. Die Autorin raubt damit der Studie auch das Potenzial, die Geschichte einer katholischen Anstalt mit der allgemeinen Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere der "Aktion T4" und deren Abbruch durch kirchliche Proteste, zu verknüpfen und als interdependentes Ereignis zu analysieren.

Ein weiteres Grundproblem der Arbeit ist, dass die Autorin zu nah an ihrem Quellenkorpus und zu fern von der Forschungsdiskussion argumentiert, weshalb sie manchmal den Blick für das Wesentliche aus den Augen verliert. Dadurch gelingt es ihr nicht, neue Akzente in der Kernfrage der Auseinandersetzung um Schönbrunn zu setzen, die da lautet: Verhinderte die Kooperation von Steininger mit der Stadt München Schlimmeres oder ging es dem Prälaten schlicht um die Bewahrung seiner Einrichtung - ohne Rücksicht auf Verluste? Zudem findet sich mancher Fehler im Buch, etwa wenn die Autorin ein Gesprächsprotokoll Faulhabers zitiert, in dem dieser auf "Trier" Bezug nahm (66). Hinter "Trier" verbirgt sich aber nicht Domkapitular Johann Zinkl, sondern der Trierer Bischof Bornewasser.

Deutlich positiver fällt hingegen die Schilderung des Innenlebens der Anstalt aus, in der es um die Handlungsmöglichkeiten und Gewissenskonflikte der Schwestern, Geistlichen und Ärzte geht. Hier zeigen sich die Stärken der Arbeit, deren Quellenbasis eindrucksvoll ist. In der Anstalt eingesetzte Lehrkräfte versuchten offenbar, Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht zu unterminieren, indem sie den Pfleglingen beim Ausfüllen sogenannter Intelligenzprüfungsbögen halfen. Das hieß gleichwohl nicht, dass das Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Schönbrunn frei von abwertendem und eugenischem Gedankengut gewesen wäre, das seit den 1920er Jahren weit in das katholische Milieu vorgedrungen war.

Gravierender auf das Anstaltsleben wirkte sich die "Euthanasie" aus. Auch hier versuchten der Direktor und der zuständige Arzt, durch Ergänzungen und Veränderungen der Meldebögen die Pfleglinge besserzustellen, um eine Deportation zu verhindern. Die Verlegungen waren aber Voraussetzung, um die Kooperation mit der Stadt München zu erfüllen, die freie Betten benötigte. Das führte bei vielen Schwestern zu schweren Gewissenskonflikten. Sie fühlten sich für ihre Pfleglinge verantwortlich und begleiteten sie auf der Fahrt, um sie zu beruhigen - obwohl sie schon früh von ihrem Schicksal wussten. Damit beteiligten sie sich an einem Mordprogramm, das "sie aus ihrer christlichen Überzeugung heraus ablehnten, ablehnen mussten" (215).

Ein Hauptanliegen der Studie ist es, die Zahl der Opfer zu recherchieren, die in der Anstalt zwangsweise sterilisiert und beziehungsweise oder später verlegt und ermordet wurden. Die Zahlen sind, wie zu erwarten war, erschütternd: 40 Männer und 13 Frauen fielen dem Sterilisationsprogramm zum Opfer. Von den 905 verlegten Pfleglingen überlebten nur 322 den Krieg. 207 Betreute wurden im Rahmen der "Aktion T4" ermordet, bei 332 geht die Autorin von einer Tötung im Rahmen der dezentralen "Euthanasie" aus. Unverständlich ist hingegen, weshalb die Namen der Mordopfer aus Schönbrunn anonymisiert werden. Ein angemessenes Gedenken ermöglicht dieses Vorgehen nicht, wenngleich das nicht der Autorin, sondern den restriktiv ausgelegten archivrechtlichen Vorgaben des AEM anzulasten ist. Über Schönbrunn und katholische Anstalten in der Zeit des Nationalsozialismus ist damit noch nicht das letzte Wort gesprochen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Winfried Süß: Die katholische Kirche, Bischof von Galen und die "Euthanasie" - neun Thesen, in: M. Benigna Sirl / Peter Pfister (Hgg.): Die Assoziationsanstalt Schönbrunn und das nationalsozialistische Euthanasie-Programm, Regensburg 2011, 15-41, hier 17.

[2] Vgl. Markus Krischer: Kinderhaus. Leben und Ermordung des Mädchens Edith Hecht, München 2006, 97-111 und 135-189.

[3] Vgl. Peter Pfister: Die Assoziationsanstalt Schönbrunn und das nationalsozialistische Euthanasieprogramm, in: Archive in Bayern 8 (2014), 65-81. Das Findbuch des Bestandes ist mittlerweile online einsehbar: digitales-archiv.erzbistum-muenchen.de/actaproweb/archive.xhtml?id=Best%20%20%20%20d2710417-ae20-42ee-9bb8-c89b228ee70a#Best____d2710417-ae20-42ee-9bb8-c89b228ee70a [26.04.2022].

Moritz Fischer