Rezension über:

Onur Erdur: Die epistemologischen Jahre. Philosophie und Biologie in Frankreich, 1960-1980 (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; Bd. 24), Zürich: Chronos Verlag 2018, 392 S., ISBN 978-3-0340-1382-6, CHF 48,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christoffer Leber
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Christoffer Leber: Rezension von: Onur Erdur: Die epistemologischen Jahre. Philosophie und Biologie in Frankreich, 1960-1980, Zürich: Chronos Verlag 2018, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/37105.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Onur Erdur: Die epistemologischen Jahre

Textgröße: A A A

Wissen entsteht weder im luftleeren Raum noch verharrt es in Laboren, Universitäten und Akademien - im Gegenteil: Es zirkuliert zwischen Akteuren, Schichten und Räumen, wird medial repräsentiert, öffentlich rezipiert und steht in engem Austausch mit anderen Deutungsformen. Dies ist eine Grundannahme der viel diskutierten "Wissensgeschichte".[1] Onur Erdurs Dissertation "Die epistemologischen Jahre" folgt diesem Ansatz und versteht sich dezidiert als eine "Wissensgeschichte des französischen Denkens im Zeitalter der modernen Biologie" (9). Das Zitat von Gaston Bachelard "La science crée de la philosophie" steht am Beginn von Erdurs Buch. Jenes Zitat, demzufolge die Wissenschaft die Philosophie hervorbringe, war programmatisch für die epistémologie, dem dominierenden philosophischen Diskurs im Paris der 1960er und 70er Jahre. Die französische Epistemologie war keineswegs gleichzusetzen mit der Erkenntnistheorie, sondern stand für eine spezifisch französische Denktradition, die dem Credo folgte, "dass die Philosophie ihre Themen und Fragen nur aus der Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Denken hervorholen könne" (17).

Der Aufstieg der Epistemologie fiel mit dem Aufstieg der Molekularbiologie in Frankreich zusammen. Ausgehend von dieser Beobachtung fragt Erdur nach den Rezeptions- und Verarbeitungsvorgängen molekularbiologischen Wissens unter Vertretern der Epistemologie (12). Methodisch begreift Erdur die Epistemologie als eine "trading zone", eine Zirkulationssphäre, in der Ideen, Konzepte und Theorien zwischen Philosophie und Biologie ausgetauscht, rezipiert, angeeignet und übersetzt wurden (16).

Wie und warum wurde die Epistemologie gerade in den 1960er Jahren zur leitenden philosophischen Denkschule in Frankreich? Um diese Frage zu beantworten, wendet sich Erdur im ersten Kapitel ("Die epistemologische Schule von Paris") seinem Protagonisten Georges Canguilhem zu. Als Professur für Wissenschaftsgeschichte an der angesehenen École Normale Supérieure (ENS) und Generalinspektor des nationalen Bildungswesens in Frankreich konnte Canguilhem die Epistemologie flächendeckend etablieren und einen philosophischen Nachwuchs in seinem Sinne großziehen (36). Anhand einer 1965 ausgestrahlten Sendung zum Thema "Philosophie et vérité" illustriert Erdur, wie sich die Epistemologie als Schule repräsentierte und sich von ihrer Hauptkonkurrentin, der Phänomenologie, ostentativ abgrenzte. Treffend beschreibt Erdur die Sendung als "verdoppelten Repräsentationsraum", als "Theater im Theater" (52): Größen der französischen Philosophie versammelten sich an der ENS und nahmen an einer Inszenierung Teil, die angehenden Studenten vermitteln sollte, mit welchem Denk- und Argumentationsstil man Zugang zur etablierten Schule der Philosophie bekam. Höhepunkt der Sendung war ein Schlagabtausch zwischen Michel Foucault als Verfechter der Epistemologie und Paul Ricœur als "Advocatus Diaboli" der Phänomenologie (51). Angesichts dieser idealtypischen Gegenüberstellung drängt sich die Frage auf: Gab es nicht auch Zwischen- bzw. Außenpositionen?

Das zweite Kapitel "Die Pasteur Connection" widmet sich dem biologiehistorischen Teil der Geschichte. Im Jahr 1965 wurden die Molekularbiologen François Jacob, Jacques Monod und André Lwoff des Pariser Institut Pasteur für die Entschlüsselung des genetischen Codes mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet. Da alle drei Wissenschaftler dem linken Spektrum angehörten und politisch somit nicht auf Staatslinie waren, fielen die öffentlichen Reaktionen eher verhalten aus (65). Dennoch führte der Nobelpreis die enormen Veränderungsprozesse innerhalb der Lebenswissenschaften vor Augen: Die Molekularbiologie näherte sich nicht nur stark der Physik und Chemie an, sondern experimentierte auch an neuen Modellorganismen (E. Coli) und entlehnte ihre Konzepte der Informationstechnologie und Kybernetik (Code, Botschaft, Rückkoppelung, Loop etc.) (76-80). In der intellektuellen Kontaktzone von Paris entstanden in der Folge zwei miteinander verflochtene Denkkollektive: Einerseits Philosophen der "epistemologischen Schule" Canguilhem, Althusser, Hyppolite und Foucault (mit ihren Kollegen aus den Sozial- und Humanwissenschaften Lévi-Strauss, Bourdieu, Morin); andererseits Biologen der "Pasteur Connection" mit ihren Protagonisten Jacobs und Monod (90-92).

Das anschließende Kapitel "Revitalisierungen der Epistemologie" nimmt eine Revision des Werks von Canguilhem vor. Entgegen der weitverbreiteten Forschungsmeinung, dass Canguilhem "felsenfester Parteigänger des Vitalismus" gewesen sei, argumentiert Erdur, dass die Innovationen der Molekularbiologie biophilosophische "Referenzdiskurse" generierten, die ein neues epistemologisches Denken bei Canguilhem entfachten (96f.). Der Einfluss der Kybernetik und Informationstheorie zeigte sich in der von Canguilhem postulierten "Unteilbarkeit" von Erkenntnisobjekt und Erkenntnisvorgang (103). Sein Denkprozess war dabei paradigmatisch für die Kontaktzone, in der sich Philosophen und Biologen trafen und den epistemologischen Diskurs wiederbelebten (125).

Das vierte Kapitel "Politisierungen des Wissens" führt auf die Straßen von Paris im Mai 1968. Es untersucht die Strategien, die Louis Althusser und Jacques Monod verfolgten, um den epistemologischen Diskurs zu politisieren. Während der Studierendenproteste im Mai 1968 profilierten sich Althusser und Monod als öffentliche Intellektuelle, die ihre epistemologischen Theorien mit marxistischen Positionen verbanden und gegeneinander in Stellung brachten (170). Althusser stellte Monods szientistische Erkenntnisethik unter bürgerlichen Ideologieverdacht und machte sie zum "akuten Interventionsfall" (187). Dennoch war es Monod, der (neben Sartre) die Sympathien der Studierenden gewann, während man Althusser realitätsfernen "thoéricisme" vorwarf (190-203).

In seinem 1970 veröffentlichten Buch La logique du vivant betätigte sich Jacobs erstmals als Wissenschaftshistoriker und regte unter Vertretern der Epistemologie (v.a. Foucault; Canguilhem) eine Reflexion über das Verhältnis von Geschichte und Epistemologie an (224ff.). Das Folgekapitel untersucht die epistemologische Auseinandersetzung mit Problemfeldern des Sozialen, v.a. die Frage nach der Deutungshoheit von Biologie in verschiedenen Gesellschaftsbereichen (266). Mit dem Neologismus "Monod-Culture" (einem Artikel aus Le Point entlehnt) veranschaulicht Erdur die enorme mediale Ausstrahlungskraft der modernen Biologie, die sich aus der Popularität und Kontroverse um Monods Bestseller Le hasard et la nécessité (1979) speiste (285).

Das Schlusskapitel "Fluchtlinien" bietet einen Ausblick. Während Jacobs mit seinem Werk La loquique du vivant zum Klassiker der biophilosophischen Debatte wurde, gestaltete sich Moods Aufnahme in die französische Gelehrtenrepublik schwieriger (335). Es skizziert den "Abgesang" der epistemologischen Schule ab Mitte der 1970er Jahre: Der erkenntnisleitende, identitätsbildende Diskurs der Epistemologie ebbte allmählich ab, erfuhr methodisch-inhaltliche Akzentverschiebungen und griff auf die Kulturwissenschaften über (352). Obwohl der Ausblick die Chronologie der Pariser epistemologischen Schule gut abrundet, wäre an dieser Stelle eine systematische Bündelung der Ergebnisse und deren Einordnung in eine größere Forschungsdiskussion wünschenswert gewesen. Welchen 'Sonderweg' im biophilosophischen Denken schlug Frankreich im Vergleich zu Großbritannien, USA oder Deutschland ein?

Onur Erdurs Buch ist eine Erkundungsreise: Sie führt von den erhabenen Hallen der École Normale Supérieure ins französische Bildungsfernsehen, von den Pariser Maiprotesten ins kalifornische Salk Institute. Die Lektüre besticht durch eine gute Wissenschaftsprosa, die mancherorts allerdings zu terminologischen Verwässerungen neigt: Allein die Zuschreibungen der Epistemologie changieren zwischen "Reflexionsmodus", "Diskurs", "Zirkulationssphäre", "Kontaktzone", "Kampfzone", "Denkschule", "Denktradition" und "Identifikationskonzept". Die doppelte Verwendung der Epistemologie als Quellenbegriff und Analysekategorie macht diese zuweilen schwer greifbar. Diesen Kritikpunkten ungeachtet hat Erdur ein gut recherchiertes und komponiertes Buch vorgelegt, das vor allem durch die Auswertung neuer Archivquellen überzeugt. [2] Gekonnt verbindet der Autor ideen- mit politikgeschichtlichen Entwicklungslinien im Paris der 'langen' 1960er Jahre und bringt dabei Licht in ein vernachlässigtes Kapitel der französischen Philosophie.


Anmerkungen:

[1] Zur Diskussion um Wissensgeschichte, vgl. Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 36/1 (2011), 159-172; Jakob Vogel: Von der Wissenschafts- zur Wissenschaftsgeschichte: Für eine Historisierung der Wissensgesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30/4 (2004), 639-660.

[2] Unter anderem die Nachlässe von François Jacobs und Jacques Monod (Archives de l'Institut Pasteur, Paris), der Nachlass von Georges Canguilhem (Centre d'archives de philosophie, d'histoire et d'édition des sciences, Paris) und der Nachlass von Louis Althusser (Institut mémoires de l'édition contemporaine, Caen).

Christoffer Leber