Rezension über:

Paul Erker: Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, 875 S., 25 Farb-, 130 s/w-Abb., 28 Tbl., ISBN 978-3-11-064220-9, EUR 49,95
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Rezension von:
Dominik Dockter
Leibniz Universität Hannover
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Dominik Dockter: Rezension von: Paul Erker: Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/36285.html


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Paul Erker: Zulieferer für Hitlers Krieg

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Das "Zertifizierungsunternehmen Zeitgeschichtsforschung" [1] hat ein neues Produkt hervorgebracht: eine opulente Studie über den hannoverschen Continental-Konzern in der Zeit des Nationalsozialismus. In den schon mehrere Jahrzehnte anhaltenden Aufarbeitungsboom reiht sich die Continental AG mit dem Anliegen einer umfassenden Erforschung ihrer Rolle im "Dritten Reich" spät ein. Das 150-jährige Firmenjubiläum im Jahr 2021 dürfte den entscheidenden Anlass dafür gegeben haben. Dazu finanzierte das DAX-Unternehmen im Jahr 2016 eine wissenschaftliche Untersuchung, die "von jeder Einwirkung und Kontrolle" durch den Konzern ausgenommen gewesen sei [2]. Die Auftragsvergabe an Paul Erker, der als außerplanmäßiger Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Unternehmenshistoriker mit zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen einen hervorragenden Ruf genießt, verleiht der Studie trotz ihrer engen Anbindung an das Unternehmen die notwendige Vertrauenswürdigkeit. Bestätigt wird dieser Eindruck durch die Lektüre der fünf Hauptkapitel auf knapp 800 Seiten. Dabei sei hervorgehoben, dass es in der vorliegenden Untersuchung nicht nur um die Continental AG geht, sondern auch um die zwischen 1998 und 2007 von dem Konzern übernommenen Zulieferer VDO, Teves, Phoenix und Semperit. Daher bezeichnet Erker seine Studie als eine "Branchengeschichte oder eine vergleichende Untersuchung von fünf Unternehmen" (1). Dieses ambitionierte und vielversprechende Vorhaben erklärt gleichzeitig den enormen Umfang der Publikation. Mit der Initiierung des Forschungsauftrags ging auch die Professionalisierung des Unternehmensarchivs einher, was sich durch die Erschließung bisher unentdeckter Quellen im Zuge des Arbeitsfortganges offenbar als produktiv erwies. Dennoch sorgt die heterogene Quellenlage dafür, dass die besagten fünf Unternehmen nicht gleichermaßen berücksichtigt werden konnten: Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf der Unternehmenszentrale in Hannover.

Paul Erker konzentriert seine Analysen auf drei Kernbereiche: Erstens, die "Transformation der Unternehmenskultur" und die damit einhergehende Entwicklung des "Verhältnis[ses] zum NS-Regime und den Behörden im Kontext der nationalsozialistischen Autarkie-, Rüstungs- und Kriegswirtschaft", zweitens, die "Nutzung und Ausbeutung" von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern (3) und drittens, die Expansionsaktivitäten der Continental AG im "Dritten Reich". Dass es sich dabei um einen "klassischen Untersuchungsstrang" (4) mit bereits bekannten Fragestellungen handelt, tut Erker nicht einfach ab. Die in jüngerer Zeit zunehmende Kritik an derartigen Auftragsforschungen und die berechtigte Frage nach ihrer Relevanz für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt nutzt Erker einerseits produktiv zur Schärfung seiner Untersuchungsprämissen, andererseits scheint er sie bisweilen auch etwas zu stark anzunehmen, beispielsweise, wenn er das Potenzial seiner Arbeit vor allem in ihrer Bedeutung für das Unternehmen selbst oder in dem "politisch-moralischen Bedarf" der Erforschung der NS-Geschichte sieht (5). Der vergleichende Ansatz der vorliegenden Arbeit, Erkers detailliert und reflektiert herausgearbeiteten Befunde sowie die kenntnisreiche Verortung derselben in den Forschungsstand machen seine Studie, trotz aller Kritik am Aufarbeitungsboom, zu einem gewinnbringenden Beitrag für die Wissenschaft. Ganz abgesehen davon, dass die Continental AG "einer der wichtigsten Zuliefererkonzerne" des "Dritten Reichs" war (1).

Dabei schreibt Erker keineswegs eine lineare und nur stellenweise vorhersehbare NS-Unternehmensgeschichte, sondern betont stets die Aushandlungsprozesse, widmet sich Handlungs- sowie Gestaltungsspielräumen und trägt dadurch zu einem besseren Verständnis der Komplexität und Spannweite des "Mitmachens" in der Diktatur des Nationalsozialismus bei. Das zeigt sich beispielsweise an der Exklusion des jüdischen Aufsichtsratsmitglieds Julius B. Caspar, der trotz umfassender Selbstgleichschaltungsmaßnahmen der Continental AG in den Jahren 1933/34 noch bis 1938 einen Sitz im Aufsichtsrat bekleiden konnte und der erst nach einem Anstoß von außen seines Amtes enthoben wurde. Gleiches gilt für die konfliktreichen Aushandlungsprozesse von Continental-Managern mit verschiedenen Stellen von Wehrmacht und Staat im Kontext der Rüstungsproduktion, wobei die Unternehmensrepräsentanten selbst "integraler Bestandteil des Kriegswirtschaftssystems im Reifen- und Gummibereich" waren (314). Auch Erkers Befunde über den ehemaligen Gewerkschaftssekretär des Deutschen Metallarbeiterverbandes, Wilhelm Daene, der nach mehrfachen Verhaftungen im Jahr 1935 bei Teves unterkam und gemeinsam mit einer Reihe von Betriebsangehörigen den in der "Judenabteilung" des Berliner Werks zur Arbeit gezwungenen Frauen half oder über den etwa 40 Personen großen Teves-Widerstandskreis sind sehr aufschlussreich. Wer Erkers Studie mit einer ergebnisoffenen Haltung liest und nicht erwartet, dass eine Unternehmensgeschichte das grundsätzliche Verständnis über das Wirtschaften im Nationalsozialismus revidiert, sondern mehr über die Komplexität und Ambivalenz nationalsozialistischer Aushandlungs- und Aneignungsprozesse im unternehmerischen Kontext wissen will, wird in dieser Studie viel Gewinnbringendes finden.

Zwei Kritikpunkte seien an dieser Stelle aber doch angebracht: Erstens hätte Erker gut daran getan, etwas klarerer zu identifizierende Zusammenfassungen an das Ende seiner fünf Hauptkapitel, die sich teilweise über 150 Seiten strecken, zu stellen. Das hätte die Lesbarkeit der umfangreichen Studie erhöht. Zweitens ist in Erkers Untersuchung ersichtlich, dass er die starren Zäsuren der Jahre 1933 und 1945 aufbrechen und die Phasen der Systemtransformation einbeziehen möchte. Für das Ende der Weimarer Republik und die Veränderungsprozesse nach 1933 gelingt ihm das gut; die Zeit nach 1945 hätte hingegen noch intensiver betrachtet werden können. So stellt Erker an das Ende seiner Studie lediglich einen "Ausblick" auf die Entnazifizierung der Continental AG und ihren Umgang mit dem Erbe der NS-Zeit. Dabei wäre es spannend gewesen, auch hier die Fragen nach personellen, inhaltlichen sowie strukturellen (Dis-)Kontinuitäten und nach Veränderungen in der Unternehmenskultur durch die eingeleiteten Demokratisierungsprozesse ähnlich differenziert zu beleuchten wie die Firmenentwicklung zwischen 1933 und 1945. Dass die Zeit nach dem "Zusammenbruch" nur kursorisch behandelt wurde, ist angesichts der vorgelegten 800 Seiten jedoch nachvollziehbar und eröffnet vielversprechende Anknüpfungspunkte für weiterführende Untersuchungen. Dies ist insofern keine Rezensionsfloskel, da die Continental AG als Reaktion auf die vorliegende Arbeit nicht nur beschlossen hat, die Befunde in ihr Aus- und Weiterbildungsprogramm zu integrieren, das Unternehmensarchiv der Wissenschaft frei zugänglich zu machen und eine Gedenktafel für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aufzuhängen, sondern auch das Siegmund-Seligmann-Stipendium ins Leben zu rufen, mit dem wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschungen zur Geschichte des Konzerns finanziell gefördert werden sollen [3].

Paul Erkers Veröffentlichung und ihre Rezeption "zertifizieren" der Continental AG durchaus eine "kritische historische Selbstverständigung" [4] und lassen sich von dem Unternehmen gut nutzen, um im Kontext des Firmenjubiläums im Kontrast zur "dunklen" NS-Zeit positiv besetzte Werte sowie den Wandel der Betriebskultur öffentlichkeitswirksam zu betonen. Und ja, Erkers Forschungsdesign verfolgt vielfach bereits bekannte Ansätze bei der Aufarbeitung der NS-Geschichte von Unternehmen. Aber seine Arbeit ist gleichzeitig exzellent recherchiert, differenziert angelegt und von großer Expertise begleitet, weswegen ihre Lektüre ausdrücklich empfohlen werden kann.


Anmerkungen:

[1] Frank Bajohr / Johannes Hürter: Auftragsforschung "NS-Belastung". Bemerkungen zu einer Konjunktur, in: Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, hg. von Frank Bajohr, Göttingen 2016, 221-233, hier 229.

[2] Continental, Zulieferer für Hitlers Krieg; mag.continental.com/de/zulieferer-fuer-hitlers-krieg [16.05.2022].

[3] Vgl. ebenda.

[4] Bajohr / Hürter, Auftragsforschung, 229.

Dominik Dockter