Oliver Bräckel: Flucht auswärtiger Eliten ins Römische Reich. Asyl und Exil (= Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge; Bd. 77), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 347 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13080-6, EUR 62,00
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Neil W. Bernstein: Ethics, Identity, and Community in Later Roman Declamation, Oxford: Oxford University Press 2013
Evelyn Höbenreich / Giunio Rizzelli: Scylla. Fragmente einer juristischen Geschichte der Frauen im antiken Rom, Wien: Böhlau 2003
Das im Folgenden zu besprechende Buch ist die überarbeitete Version der Leipziger Dissertation von Oliver Bräckel aus dem Jahr 2019. Der Autor wertet die Schicksale von insgesamt 57 (allesamt männlichen) Personen aus, die zwischen 200 v.Chr. und 200 n.Chr. temporäre oder auch dauerhafte Aufnahme im Imperium Romanum fanden. Der Untersuchungsgegenstand wird dabei von zwei Stellschrauben reguliert: zum einen Fokussierung auf durch existenzielle Gefahren erzwungene und insofern "alternativlose" Emigration ("Flucht" - zur Definition: 29-32), zum anderen die Eingrenzung auf Angehörige der gesellschaftlichen Eliten der Herkunftsländer. Zumindest letztere Engführung ist ganz wesentlich den Quellen geschuldet, die Angehörige der breit gefassten Unterschichten gar nicht oder nur als anonymen Teil einer größeren Gruppe erfassen. Zur Elite zählen für den Verfasser dabei diejenigen Akteure, die in ihrem gesellschaftlichen Feld als "Machthaber" anzusprechen sind (28). Als übergeordnetes Ziel der Untersuchung wird sehr unbestimmt die "umfassende Betrachtung der Exilanten-Problematik im Römischen Reich" (13) benannt bzw. werden "einige allgemeingültige Aussagen und Schlussfolgerungen über die Problematik" angestrebt (33).
Bräckel gliedert seine Untersuchung in drei große Teile: Die "Vorbetrachtungen" sind der Erläuterung der Begrifflichkeiten sowie der Abgrenzung des Phänomens "Flucht" von anderen Migrationsarten wie Verbannung und Vergeiselung gewidmet. Der zweite Teil besteht im Wesentlichen aus einer chronologischen Darstellung der identifizierbaren Flucht-Ereignisse. Im letzten Großabschnitt folgt dann eine systematische Auswertung des Materials unter Aspekten wie Ablauf der Flucht, Ziele, Aufnahmemodalitäten oder weiteres Schicksal der Exilanten. Die 20-seitige "Schlussbetrachtung" greift diese Ergebnisse im Grunde noch einmal, entsprechend kondensiert, wieder auf.
Was nun sind die Erträge der Untersuchung? Vorweg sei gesagt, dass eine Gesamtmenge von 57 Fällen, die sich zudem (wenn auch nicht ganz gleichmäßig) über 400 Jahre erstrecken, jede auch nur in Ansätzen 'statistische' Auswertung im Grunde verbietet. Die einzelnen Schicksale sind so spezifisch gelagert, dass sie jeweils eine eingehende separate Betrachtung erfordern. Der Autor ist sich dessen offenbar bewusst, was im Ergebnis zu Recht ermüdenden Wiederholungen derselben Sachverhalte an unterschiedlichen Stellen führt - ermüdend zumindest bei einer vielleicht aber auch gar nicht angestrebten Gesamtlektüre des Werkes. Die wichtigste Erkenntnis der Arbeit ist wohl, dass Bräckel keinen Fall einer verweigerten Aufnahme eines schutzsuchenden Eliteangehörigen im Imperium Romanum ausmacht; auch eine Auslieferung von Exilanten sei nicht erfolgt. Bezüglich der Bedingungen des Aufenthalts legen die insgesamt eher spärlichen Nachrichten für den untersuchten Personenkreis eine durchaus komfortable Unterbringung in Rom nahe, die auch in der domus privater Gastfreunde erfolgen konnte. Für zwei Personenkreise aber ist auffällig, dass die Betroffenen offenbar absichtlich von der Urbs ferngehalten wurden: So wies man den germanischen Herrschern Marbod und Catualda in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. Wohnorte in Norditalien bzw. der Narbonensis zu; und exilierte parthische Große verblieben grundsätzlich in den östlichen Provinzen des Römischen Reiches. Über die Gründe lässt sich, sofern sie überhaupt verallgemeinerbar sein können, nur spekulieren. Auffällig ist schließlich, dass ein Großteil der behandelten Exilanten tatsächlich in die Heimat zurückkehrte, oft auf Vermittlung bzw. diplomatischen und militärischen Druck Roms. In einigen Fällen wurden auswärtige Herrscher auch als Klientelfürsten außerhalb ihres Heimatlandes eingesetzt. Insbesondere in der Hohen Kaiserzeit scheint es den Nachkommen einiger Exilanten zudem gelungen zu sein, einen dauerhaften (u.U. sogar als Mitglied des ordo senatorius herausgehobenen) Platz in der römischen Gesellschaft zu finden.
Aus römischer Sicht macht Bräckel mehrere Motive für die Aufnahme von Flüchtigen aus: politische Strategie und Prestige (Exilanten als potentielle Unruhestifter in der Heimat, Unterstreichung der eigenen Stellung als "Weltmacht", Abschöpfung von Insider- bzw. Expertenwissen), rechtlicher Status des Schutzsuchenden (etwa als amicus bzw. socius) sowie auf der immer bedeutsameren Ebene der persönlichen Bindungen Verpflichtungen aus einem Nahverhältnis (insb. 211-219). Insbesondre ab dem 1. Jahrhundert v.Chr. haben zunächst die 'großen Einzelnen', schließlich allein der Princeps in diesen Fragen den Ausschlag gegeben. Bräckels aus dem Befund abgeleitete These (ähnlich bereits bei David Braund), Rom habe als sicherer Hafen für hochrangige Exilanten gedient, würde an Gewicht gewinnen, wenn dem als Alternative nur angerissenen Exil in Drittstaaten (296-298) konsequenter nachgegangen worden wäre; so bleibt es leider nur bei der im Konjunktiv formulierten Vermutung, dass "das Römische Reich über den gesamte Untersuchungszeitraum hinweg den wichtigsten Anlaufpunkt für Exilanten dargestellt haben dürfte." (298) Dass die behandelten Elite-Fälle zudem nur die Spitze eines Eisbergs aus weiteren, namentlich nicht bekannten Flüchtigen ausmachten, wird ebenfalls eher im Vorübergehen konstatiert (289-292).
Der Auswertung der unterschiedlichen Aspekte wird jeweils eine chronologisch geordnete Tabelle vorangestellt. Aber auch hier scheint leider das Potential nicht annähernd ausgeschöpft: Datierungen fehlen, Kategorien erschließen sich teilweise nicht: Was soll eine Aufstellung zu "Möglichkeiten eines Exilanten" aussagen, wenn die Einträge in der namengebenden Spalte eher kryptisch daherkommen wie "Senat; Nützlichkeit; Persönliche Kontakte" (231)? Viel hilfreicher wäre im Übrigen ein prosopographischer Katalog gewesen. Bedauerlich ist auch die hohe Fehlerzahl, sowohl was sprachliche Aspekte anbelangt, als auch hinsichtlich sachlicher Versehen (so wird der Tod des Herodes auf 4 n.Chr. statt 4 v.Chr. datiert (133), die Vertreibung des Vannius auf 51 v.Chr. statt 51 n.Chr. (162)). Für die Aussagekraft der Analyse kritisch erweist sich die oft unpräzise Ausdrucksweise. Hier seien nur einige Beispiele genannt: 180: "für die eine oder andere Forschungsfrage"; 206: "in ein paar Fällen"; 239: "schwierig bis unmöglich"; 297 Anm. 32 "um nur eins von vermutlich [sic!] einigen Beispielen zu nennen"; 212 Anm. 109: "in den Quellen auch kaum bis gar nicht zu fassen". Ähnliches gilt für Analysekategorien, etwa wenn wiederholt von "Bestechung" die Rede ist, ohne dies für antike Gesellschaften nachvollziehbar zu konzeptualisieren (insb. 242-245). Die Akteursebene wird vollständig ausgeblendet durch Formulierungen wie "als Parthien dies wünschte" (153). Ein sehr schiefes Bild von der politischen Kultur Rom verrät die Formulierung, der Einsatz Caesars für den Numider Masintha sei "ein klares Indiz für die schwindende Macht der römischen Administration", womit der Senat gemeint ist (108). Methodisch höchst problematisch erscheinen Schlüsse, die auf das Forschungsdesign zurückzuführen sind: Wenn "Flucht" eingangs als immer durch Zwang gekennzeichnet definiert wird, darf es auch nicht verwundern, wenn alle nach diesem Kriterium in die Untersuchung aufgenommen Personen tatsächlich einem solchen Zwang ausgesetzt waren (vgl. den Kriterienkatalog 30-31 mit der "Auswertung" 186; 188).
Insgesamt hat Bräckel eine Studie vorgelegt, die einen wichtigen Bereich römischer Außen- und Bündnispolitik ausleuchtet. Der unbestreitbare Wert der Darstellung liegt in der Zusammenstellung und Aufbereitung des Materials. Dies hätte durch eine intensivere Redaktion, vor allem aber durch Beigaben wie Prosopographie und umfassendere Register noch deutlich an Relevanz und Nutzbarkeit gewonnen.
Christian Reitzenstein-Ronning