Christoph Thun-Hohenstein u.a. (Hgg.): Josef Hoffmann 1870-1956. Fortschritt durch Schönheit: Das Handbuch zum Werk, Basel: Birkhäuser Verlag 2021, 453 S., 310 Abb., ISBN 978-3-0356-2295-9, EUR 69,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Die Frage, die sich heute angesichts der nicht abreißenden Zahl von Jubiläen der sogenannten Pioniere und Ikonen der Moderne mehr denn je aufdrängt, lautet: Wie können wir die Architektur- und Designgeschichte der Moderne noch erzählen? Am 19. Juni 2022 endete die Retrospektive "Josef Hoffmann. Fortschritt durch Schönheit" im Museum für angewandte Kunst in Wien (MAK), die anlässlich des 150. Geburtstages des Protagonisten der frühen Moderne gezeigt wurde. Über die Laufzeit dieser Leistungsschau hinaus wirkt der hierzu erschienene Katalog, der den Anspruch proklamiert, ein Handbuch zu Leben und Werk Hoffmanns zu sein. Jenseits aller, bei Jubiläumsbänden üblichen rhetorischen Rechtfertigungen liegt darin das Versprechen, so eines der umfangreichsten Œuvres der Wiener Moderne systematisch aufgearbeitet zu haben. Mit einem Handbuch verbindet sich neben einem gewissen Vollständigkeitsanspruch eine Annäherung an den Schaffensprozess mittels der Darlegung übergeordneter Zusammenhänge. Im Gegensatz zum Format des Werkverzeichnisses birgt das Handbuch daher das Versprechen einer neuen Ordnung beziehungsweise Lesart von Hoffmanns Werk.
Der umfangreiche Band, der 40 Beiträge nach Werk- und Lebensphasen mit ausführlichen Bildsequenzen und in Etappen sortierten Kurzbiographien ergänzt, zeigt mit dem Untertitel "Fortschritt durch Schönheit" eine programmatische Haltung an. Mit der schieren Menge an Aufnahmen und großformatigen Reproduktionen der Werke Josef Hoffmanns sichert sich der Ausstellungskatalog eine gewichtige Position in der Masse an Publikationen und Bildbänden zum Wien des 20. Jahrhunderts. Der Band formuliert auf visueller Ebene ein konzentriertes Argument, denn das über sechs Dekaden abwechslungsreiche Schaffen Josef Hoffmanns kann in seinen Besonderheiten oder Eigenheiten ausgiebig besichtigt werden. Das Erschließen weiterer Archivbestände für ein breites Lesepublikum und gerade das Austarieren der Behandlung des Spätwerks im Vergleich zum Frühwerk Hoffmanns biete, so die Herausgeber Christoph Thun-Hohenstein, Christian Witt-Dörring, Matthias Boeckl und Rainald Franz, ein "neues Bild von Leben und Werk Josef Hoffmanns" und versteht sich als "Neubearbeitung und Ergänzung" (14) des bis dato grundlegenden Werkverzeichnisses von Eduard F. Sekler.
Inwiefern sich Hoffmanns Anspruch auf Schönheit zum Instrument eines Fortschreitens oder gar Fortschrittes eignet, verbleibt nach der Lektüre des Bandes gleichwohl diffus. Das Inhaltsverzeichnis jedenfalls bindet den Fortschritts-Gedanken allein an die Chronologie des Lebenslaufs und der zunehmenden Individualisierung eines erfolgreichen Architekten-Designers zurück. Die Herausgeber begründen den Untertitel über Hoffmanns "Glauben an die lebensverbessernde, ja den Menschen heilende Kraft von Schönheit." (8) Diese Überzeugung mache Hoffmann zu einem "reformbeseelten Ästhet[en]". (9) Der subjektgeschichtliche Untersuchungsansatz selbst unterstellt künstlerischen Fortschritt als Summe von Erfahrungen, die von vornherein auf ein Telos zielen. Dass der Begriff des Fortschritts, wenn man ihn global auf das Gesamtwerk Josef Hoffmanns anwendet, tiefergehende Einsichten eröffnet, weckt doch einige Skepsis. Denn die Begriffswahl des Fortschritts dient weniger als Analyserahmen als vielmehr der Würdigung eines Architekten, dessen herausragende Stellung festgeschrieben werden soll. Die Absicht wird mitunter im Werkverzeichnis transparent, wo wiederholt die Vorreiterrolle Hoffmanns und seiner Arbeit hervorgehoben wird, so im Rahmen der Wiener Werkstätte in Bezug auf die Rezeption durch die Internationale Moderne und der Ausrufung von Nachfolgern Hoffmanns. Das Verfahren erinnert an das Vorgehen der Kunstkritik, die Relevanzen über ein Vorher definiert, welches sich über ein Nachher legitimiert. Darauf lässt sich etwa die häufige und zumal widersprüchliche Erwähnung Le Corbusiers als Architekten-Ikone des 20. Jahrhunderts zurückführen. So habe die Rezeption des Palais Stoclet und Hoffmanns formale Befreiung der Fläche aus ihrem Rahmen als Vorbild für die Pariser Entwicklungen des Purismus gewirkt. Argument hierfür ist die Gegenüberstellung eines Hoffmann'schen Entwurfes für die Halle des Palais Stoclet mit dem Haus La Roche von Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Der in dieser Zusammenstellung provozierte Kontrast formt den Entwurf Hoffmanns fatalerweise als Betonung gerahmter Flächen um. Stichhaltiger indes ist die Beobachtung von Adrián Prieto (ab 341) im Hinblick auf das gemeinsame Schönheitsideal von Hoffmann und Robert Mallet-Stevens, das eine utopische Gemeinschaft adressiert.
Die Materialstudie zur Verwendung von Beton beim Sanatorium Purkersdorf vertieft Otto Kapfinger klug zu einer Detailstudie über die Firma Eduard Ast & Co. Der im Band von Christian Witt-Dörring verwendete Begriff der "Normware" sowie die Bezeichnung "System-Entwürfe" bei Sebastian Hackenschmidt und Wolfgang Thillmann lassen in der gemeinsamen Lektüre aufhorchen, stehen diese doch im eklatanten Kontrast zum durchdeklinierten ästhetischen Gesamtkunstwerkanspruch in den frühen Arbeiten Hoffmanns und den ersten Jahren der Wiener Werkstätte. Das von Matthias Boeckl angeführte "Einheitsideal der Moderne" (85), das im Ausstellungskatalog gleichwertig sowohl als Gesamtkunstwerk als auch Raumkunst bezeichnet wird, bricht an dieser Stelle produktiv auseinander. Ebenso spannend erscheint die Übernahme der Bezeichnung der "Nullform" (58) für das Quadrat bei Matthias Boeckl. Die Nullform bezeichnet als Fachterminus die spezifische Quadratische Gleichung mit einer Null auf einer der beiden Seiten zwischen dem Gleichheitszeichen. Dass Quadrat und Nullform als "Entdeckung der elementaren abstrakten Welt" (58) hier synonym gesetzt werden, bleibt erklärungsbedürftig. Es bleibt fraglich, inwiefern ein mathematisches Gerüst für den Designprozess des Quadratl-Hoffmann formgebend war. Es hätte sich angeboten, das äußerst diffizile Verhältnis von Massenproduktion und Designanspruch hier neu zu perspektivieren.
Das Werkverzeichnis ruft im Zeichen des Fortschrittsbegriffs ein Geschichtsmodell auf, das eine Entwicklung aus der Rückschau konstruiert. Dieses lineare Entwicklungsmodell der Moderne ist jedoch ausdrücklich am Werk Hoffmanns, das an Brüchen, Anpassungen und Wiederholungen reich ist, fraglich. Josef Hoffmann demonstrierte - wie bekannt ist und wie der Band es nochmals ausführlich über neue Quellendiskurse untermauert - in seinen Entwürfen eine stetige An- bzw. Um-Passung auch an politische Bedingungen und Systeme, die sich nicht unterschiedlicher in ihrem Selbstverständnis hätten proklamieren können. Diese, gelinde gesagt, Anpassungsfähigkeit Hoffmanns hätte an seinen geplanten und realisierten Objekten explizit gemacht werden können, denn Schleifen und stetige Überarbeitungen beziehungsweise Umformungen kreieren und negieren eine Handschrift im Sinne eines künstlerischen Programms. Josef Hoffmann, so könnte man meinen, wird zu einer Figur des Wendehalses, deren Agieren nur noch schwerlich mit einem systematischen Fortschrittsgedanken verknüpft werden kann. Fortschritt durch Schönheit wird, so muss man glauben, zu einem fast schon leeren, ästhetizistischen Über-Ideal. Die Relation der beiden Leitbegriffe des Katalogs Fortschritt und Schönheit hätten im Verhältnis zum Dekorativen und der Mode im Werk Josef Hoffmanns ausgelotet werden können. Denn die eingangs gestellte Frage bleibt eine Antwort schuldig. Eventuell würde den sogenannten Pionieren der Moderne und der retrospektiven Betrachtung ihrer Werke ein Aussetzen der Großerzählung der Moderne zugutekommen.
Lil Helle Thomas