Petra Lange-Berndt / Isabelle Lindermann (Hgg.): 13 Beiträge zu 1968. Von künstlerischen Praktiken und vertrackten Utopien (= Image; Bd. 202), Bielefeld: transcript 2022, 335 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8376-6002-9, EUR 32,00
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In neongrün prangt - zerlaufend und tropfend - die Jahreszahl "1968" auf dem Cover des von Petra Lange-Berndt und Isabelle Lindermann herausgegebenen Sammelbandes 13 Beiträge zu 1968. Von künstlerischen Praktiken und vertrackten Utopien. Das Layout erinnert an Teenie-Gruselromane oder Comics, der Hintergrund wirkt wie das Störbild eines Fernsehers. Im Horrorfilm würden in dieser Zwischenfrequenz wohl subversive, inoffizielle Botschaften folgen. Der Inhalt hinter dem Buchdeckel hält sich jedoch an die Konventionen wissenschaftlicher Publikationen - sieht man von den künstlerischen Interventionen der Künstlerin Nadja Kurz, des Kunstkollektivs und Essenservices MEHL sowie den Jugenderinnerungen von Diedrich Diederichsen einmal ab.
Die Beiträge gehen auf eine Hamburger Ringvorlesung zum 50. Jubiläum des oft als "Zeitenwende" markierten Jahres 1968 zurück. 1968 anhand künstlerischer Praktiken nicht nur der 1960er, sondern darüber hinausgehend, als "wuchernde, asynchrone und nicht-lineare Formation diverser Events, Politiken und Geografien" (10) zu begreifen, lautet der Anspruch. Die Zusammenstellung identifizieren die Herausgeberinnen bescheiden als "Bestandsaufnahme", die allerdings punktuell erweitert wird - beispielsweise durch die Kritik vorherrschender Assoziierungen von 1968 mit den Maiprotesten in Frankreich und den Anspruch, anstatt nationalspezifischer Narrative transnationale Zusammenhänge aufzuzeigen. Die zumeist sehr umfangreichen Aufsätze zeichnen sich dadurch aus, detailreich die Verbindungen verschiedener Akteur:innen, Gruppen, Institutionen sowie Ereignisse herauszuarbeiten, wovon nicht zuletzt der Index am Ende des Buches zeugt.
Zu den zentralen Themen gehören die Arbeit in Kollektiven sowie deren Materialien und Produktionsweisen, an denen nicht nur Künstler:innen, sondern auch Arbeiter:innen und Studierende teilhatten. Der Band reiht sich so ein in Diskussionen zu den Übergängen von Kunst zu Aktivismus sowie zu gegenhegemonialen Verständnissen von Kultur, ohne sich allerdings vordergründig an Theoriebildung zu beteiligen: Im Fokus steht zumeist die historische Rekonstruktion. Dabei reflektieren die Autor:innen durchaus die Gefahr der 'Fetischisierung der Revolution', so etwa Kathrin Rottmann in ihrer Auseinandersetzung mit dem Pflasterstein als revolutionärem und künstlerischem Material seit dem 19. Jahrhundert. Die derzeit viel diskutierte Frage nach der Wirksamkeit der Kunst wird vielleicht auch vor diesem Hintergrund zurückhaltend kommentiert und keineswegs wird die Kunst als die revolutionär wirksame Kraft schlechthin beschworen. Ihr werden dennoch wichtige, vorrangig unterstützende und Solidarität begünstigende sowie bewusstseinsbildende Funktionen zugeschrieben. Sebastian Egenhofers Analyse von Marcel Broodthaers Academie I (1968) greift hingegen - und das ist eher die Ausnahme - das Politische in der Kunst im Sinne einer Analyse ihrer finanziellen sowie technologisch-medialen Rahmenbedingungen. Diese Position kommt nicht etwa aktivistisch sondern resigniert daher und regt dazu an, den sich aus den Avantgarden speisenden künstlerischen Anspruch, direkt und emanzipierend ins Leben einzugreifen, kritisch auf den Prüfstand zu stellen.
Auffallend ist, dass die künstlerischen Aktionen zumeist ausgehend von den dokumentierten Intentionen jener erschlossen werden, die sie konzipiert haben, sowie Theorien, die deren Ansätze stützen. So wird in Ute Holls und Peter Otts Beitrag über Interventionen ins Kino mit 'filmischen Flugblättern' (cine-tracts) durch Regisseure wie Jean-Luc Godard die Verwendung von Taktiken des Kaperns und des Aufbrechens von Wahrnehmungskonventionen verhandelt. Hier, wie auch in anderen Beiträgen, wäre es interessant darüber nachzudenken, was wir über die Rezeption der Kunstaktionen in Erfahrung bringen können - etwa über Zeitungsartikel und andere dokumentierte Reaktionen - oder auch schlicht, welche Bedeutung das Nichtvorhandensein solcher Quellen für dieses Forschungsfeld hat.
Auseinandersetzungen mit aktuellen kunstwissenschaftlichen Theorien finden im Band zwar weniger statt, Friedrike Sigler unternimmt jedoch eine durchdachte Revision des in den frühen 2000er-Jahren durch Luc Boltanski und Ève Chiapello formulierten, generalisierten Urteils über die 68er-Kunst als Wegbereiterin der neoliberalen Flexibilisierung von Arbeit. [1] Sigler positioniert u.a. die Londoner Ausstellung Women and Work sowie Praktiken des Berwick Street Collective als ernstzunehmende "Austragungsort[e] politischer, sozialer und ökonomischer Konflikte" sowie agitatorische Mittel (156), insofern sie konkret die Ungerechtigkeit von Arbeitsverhältnissen offenlegten und mit Arbeiter:innen kollaborierten. Ebenfalls in Anlehnung an Boltanski und Chiapello drängt sich allerdings die Frage auf, inwiefern vergleichbare Positionen im kommerziellen Kunstbetrieb mittlerweile hoch im Kurs stehen und so doch eine Wirksamkeit entfalten, die den ursprünglichen Ansätzen konträr entgegensteht. Der aktuell diskutierte "Marktwert der Kapitalismuskritik" [2] oder die bereits von den Situationisten erörterte Gefahr der "Recuperation", also der Vereinnahmung von Kritik, ließen sich ausgehend von der im Band angeregten Vorsicht vor 'Revolutionsfetischen' weiterdenken. Eine solche Perspektive deutet sich etwa in Sabeth Buchmanns Auseinandersetzung mit Konzepten rund um die kulturelle Anthropophagie sowie den Tropicálismo im Brasilien im Laufe des 20. Jahrhunderts an.
13 Beiträge zu 1968 bewegt dazu, über implizite Werturteile und Narrative in der Kunstgeschichte sowie Grenzen historischer Rekonstruktionen nachzudenken. Lange-Berndt bringt das französische, transnational vernetzte Atelier Populaire in die Diskussion ein und erweitert damit die vorherrschende Fokussierung auf die Situationistische Internationale als ikonische künstlerische Protestform. Die männliche Dominanz der Gruppe - mit Blick auf die Mitglieder und die Ikonographie - spricht sie kritisch an, relativiert diesen 'Makel' aber, ebenso wie offene Bezüge zu den Ikonographien und Begrifflichkeiten der russischen und chinesischen Revolutionen, die als problematisch markiert und als Missverständnis der westlichen 68er gedeutet und somit gewertet werden. Gängige Narrative, in denen der 'Westen' im Gegensatz zum 'Osten' mit einem Freiheitsdrang assoziiert ist, werden so nicht hinterfragt. Juliane Noths ausgezeichnet recherchierter Aufsatz zu Ausstellungspraktiken in China während der sogenannten Kulturrevolution ist so perspektiviert, dass eine Entwicklung von relativen Freiheiten zu weitgehenden Einschränkungen dargelegt wird. Ob es Formen der Subversion nicht auch weiterhin in China oder auch Russland gab, bleibt jedoch offen.
Schließlich führt die Lektüre auch vor Augen, dass eine transnationale kunsthistorische Neubetrachtung von "1968" kaum geleistet werden kann. So impliziert Susanne Leeb in ihrem Beitrag "Achtundsechzig antikolonial" (u.a. zum argentinischen Kino und der transnationalen Black-Power-Bewegung) die Notwendigkeit internationaler Forschungszusammenarbeit, um "die Ursprünge von Achtundsechzig zu pluralisieren und sie in den globalen Süden zu verlagern" (31). Aufsätze zur chinesischen Kulturrevolution, zum brasilianischen Tropicálismo sowie zu Institutionskritik, kritischen Ausstellungspraktiken und Selbstorganisation in Argentinien weisen vor diesem Hintergrund in Richtung einer transnationalen Kunstgeschichte, allerdings noch nicht in institutioneller Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen an Standorten des Globalen Südens. Gerade ausgehend von Isabelle Lindermanns Ausführungen zur Ausstellung Experiencias '68 wäre es lohnend, mehr über die von ihr problematisierten finanziellen Verbindungen argentinischer Kulturinstitutionen mit imperialistischen US-Institutionen zu erfahren und Förderpolitiken nicht nur mit Blick auf die Kunst, sondern auch in den Wissenschaften zu reflektieren. Denn nehmen wir das von Leeb angeregte transnationale Projekt ernst, steht zur Debatte, wie mit der Tatsache umzugehen ist, dass auch Forschungsmöglichkeiten so ungleich verteilt sind und eine Abhängigkeit von Drittmitteln besteht, die an bestimmte Forschungszentren, Themen, Zwecke und Konventionen gebunden sind - was die transnationale Zusammenarbeit und neue Perspektiven sowie Herangehensweisen enorm einschränkt, wenn nicht gar verunmöglicht. 13 Beiträge zu 1968 kreist angesichts dieser schwierigen Ausgangslage um Perspektiven und Fragen, die in der aktuellen Forschung bereits verankert sind, glänzt aber durch analytisch ausgefeilte Case studies.
Anmerkungen:
[1] Luc Boltanski / Ève Chiapellos: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.
[2] Ökonomien des Sozialen (= Zeitschrift für Kunstgeschichte 81 (4), 2018), hgg. von Eva Ehninger / Magdalena Nieslony.
Linn Burchert