Burcu Dogramaci / Birgit Mersmann (eds.): Handbook of Art and Global Migration. Theories, Practices, and Challenges, Berlin: De Gruyter 2019, 428 S., ISBN 978-3-11-047600-2, EUR 39,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Birgit Mersmann / Hauke Ohls (Hgg.): Okzidentalismen. Projektionen und Reflexionen des Westens in Kunst, Ästhetik und Kultur, Bielefeld: transcript 2022
Irene Below / Burcu Dogramaci (Hgg.): Kunst und Gesellschaft zwischen den Kulturen. Die Kunsthistorikerin Hanna Levy-Deinhard im Exil und ihre Aktualität heute, München: edition text + kritik 2016
Burcu Dogramaci: Kulturtransfer und nationale Identität. Deutschsprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2008
Die Herausgeberinnen Burcu Dogramaci und Birgit Mersmann liefern mit ihrem "Handbook of Art and Global Migration. Theories, Practices, and Challenges" ein Schlüsselwerk für das rewriting der Kunstgeschichte aus der Perspektive der Migration. Dabei untersucht das Buch den Nexus zwischen Globalisierung und Migration, durch welchen sich eine besondere Ästhetik und Kunst gestaltet. Diese verfolgt den Anspruch bestehende Begriffsfelder wie Eigenes und Fremdes, Grenze und Nation, Körperästhetik und Mode, Identität, kulturelle Praktiken und Sprache anders und neu zu definieren. Das Ziel liegt also darin, den migratory turn, der aus dem genannten Nexus resultiert, in die Disziplin der Kunstgeschichte einzuführen und zu theoretisieren. Migration wird hier als eine Kategorie der Kunstgeschichte begriffen, die im Kontext von Transnationalisierung und Globalisierung neue Perspektiven auf das künstlerische Schaffen ermöglicht. Eine in diesem Zusammenhang zentrale Frage, die sich die Autorinnen in ihrer Einleitung stellen, lautet: "How can art history be written by focusing on instability, exchange, and cultural changeability, and not by drawing on national parameters?" (10) Mit dem Begriff 'transnational' wird demnach eine dynamische Kunstgeschichtsschreibung anvisiert, die die großen Mega-Narrative der Nation aufbrechen soll. Zugleich zielt die Frage darauf ab, methodische Herangehensweisen der Kunstgeschichte selbst als 'migratorische Prozesse' zu begreifen. Kunstgeschichte ist Migrationsgeschichte. In dieser Aussage, die sich als Synthese aus dem Band ableiten lässt, offenbart sich demnach auch eine ontologische Transformation einer traditionsreichen Disziplin.
Die Verhandlung von Mobilität und Migration in der Kunstgeschichte wurde, zumindest im deutschsprachigen Raum, über den Diskurs der 'Global Art History' sowie den Begriff der 'Transkulturalität' ab Mitte der 1990er und Anfang der 2000er-Jahre angestoßen. Der Fokus auf Migration in der Kunstgeschichte - und hier insbesondere auf die Migration des 20. und 21. Jahrhunderts - kann jedoch als eine Errungenschaft betrachtet werden, die von den Herausgeberinnen maßgeblich vorangetrieben und mitgestaltet worden ist.
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert, wobei sich das erste Kapitel als theoretische Fundierung und das zweite Kapitel als Einführung in die ästhetische Praxis betrachten lassen. Vom dritten bis zum sechsten Kapitel werden einzelne Aspekte vertieft, die im Kontext der globalen Migration von besonderer Bedeutung sind: 'Migratorische Netzwerke' (Kapitel 3); 'Räume und Grenzen der Migration' (Kapitel 4); 'Migrationsgeschichte und Erinnerung' (Kapitel 5) sowie das letzte Kapitel 'postmigrantische Konzepte und Strategien' (Kapitel 6), in dem ein Ausblick angeboten wird, der über die Migrationsgeschichte hinausführen soll.
Das erste Kapitel "Migratory Challenges for Art Production and Art History" wird von Burcu Dogramaci eröffnet. In ihrem Beitrag "Toward a Migratory Turn. Art History and the Meaning of Flight, Migration and Exile" hinterfragt sie die in der Kunstgeschichte durch den Kanon festgeschriebene und dominierende Kontinuität von Zeit und Raum. Dem entgegen stehe eine transnationale Kunstgeschichtsschreibung, welche durch Migration die Diskontinuitäten der Geschichte erforsche. Doch nach wie vor werde die Kunstgeschichtsschreibung als eine Fortsetzung des Kanons praktiziert, wie die Autorin anhand anschaulicher Beispiele belegt und damit zugleich auf Lücken in der Forschungsliteratur hinweist. Eine transnationale und transkulturelle Perspektive sei demnach dringend erforderlich, um die Vorstellung von Zentrum und Kanon aufzubrechen und die Kunstgeschichte durch Migration, Exil und Flucht grundlegend neu zu denken. Weitere Herausforderungen, die eine Kunstgeschichtsschreibung im Hinblick auf den migratory turn betreffen, werden von Nikos Papastergiadis und Daniella Trimboli aufgegriffen. In "From Global Turbulences to Spaces of Convivality. The Potentialities of Art in Mobile Worlds" heben die Autor:innen "Orte der Geselligkeit" als besondere migratorische Herausforderung sowie als Potenzial für die Kunstgeschichte und künstlerische Praxis hervor. In "The Migrant Image" analysiert Thomas Nail die Verzahnung von Migrant:innen und Bildern, die er beide als zentrale Figuren der Mobilität des 21. Jahrhundert definiert (54).
Auf das theoretisch reich fundierte erste Kapitel folgt im zweiten Kapitel "Aesthetics and Art Practices of Migration" nun eine konkrete Auseinandersetzung mit den ästhetischen Praktiken im Kontext von Migration. Die Überlegungen zur Migration von Mieke Bal widmen sich der Videokunst und kreisen um vier Videoprojekte, die teilweise ihre eigene Arbeit miteinbeziehen. Sudeep Dasgupta verhandelt in "Fuocoammare and the Aesthetic Rendition of the Relational Experience of Migration" den 2016 erschienenen und zutiefst aufwühlenden Dokumentar-Film "Fuocoammare", der die Flucht afrikanischer Menschen auf dem Meer vor der italienischen Insel Lampedusa dokumentiert und parallel Einblicke in das Alltagsleben der Inselbewohner:innen gibt. Unter dem Schlagwort "Becoming two" untersucht Marie-Hélène Gutberlet in "Path Walked Twice" unterschiedliche Identitätskonstruktionen, die Subjekte im Kontext von Kolonialismus und Migration annehmen können. Maggie O'Neill analysiert in "Women, Art, Migration and Diaspora" die weibliche Perspektive auf Migration. Auch wenn im Sammelband diese weibliche Sicht nicht vorrangig behandelt wird, muss dennoch erwähnt werden, dass die Beiträge überwiegend von weiblichen Autorinnen verfasst worden sind. Daraus lässt sich schließen, dass das Forschungsthema 'Kunst und Migration' weibliche Positionen und Perspektiven verstärkt miteinschließt.
Ein weiterer Themenschwerpunkt des Sammelbandes liegt auf der Beschreibung und Analyse von Textilien und Modeströmungen. Anhand von Textilien können aus einer materiellen und medienästhetischen Perspektive heraus nomadische Geschichten (Birgit Haehnel und Sascha Reichstein) erzählt werden. Darüber hinaus werden in der jüngsten Modeindustrie 'postmigrantische Strategien' entwickelt und vermarktet (Elke Gaugele). Außerdem diskutiert der Sammelband verschiedene Regionen, wobei sich künstlerische Positionen aus Indien (Rachel Lee; Monica Juneja), aus der arabischen Welt (Silvia Naef) und aus einer futuristischen Zukunftsperspektive heraus auch einzelne Stationen aus Afrika (Kerstin Pinther) als regionale Schwerpunkte durchsetzen. In der Videokunst (Mieke Bal) und Fotografie (Birgit Mersmann; Marie-Hélène Gutberlet) lassen sich zwei medienästhetische Schwerpunkte ausmachen, die an der Schnittstelle von Kunst und Migration eine prägnante Rolle einnehmen. Auffallend ist außerdem die Verhandlung von Wohnweisen und der intimen Privatsphäre von Subjekten, die anhand der diskutierten künstlerischen Arbeiten im Sammelband beobachtet werden kann. So zeigt sich zwischen den von Burcu Dogramaci analysierten Wohnzimmerbildern, der Arbeit "Homemade" von Aria Ahmed im Beitrag von Maggie O'Neill sowie der Videoarbeit "Nothing is missing" von Mieke Bal eine starke Verflechtung und Überkreuzung von der Ästhetik verschiedener Wohnweisen und Formen der Privatsphäre.
Das "Handbook of Art and Global Migration" bietet mit seinen unterschiedlichen Thematiken, die Migration u.a. im Kontext der Kunstinstitutionen, des Klimawandels, der Religion oder auch in Hinblick auf postmigrantische Strategien verhandeln, zahlreiche Anknüpfungspunkte. Schwerpunkte, die noch aufgenommen beziehungsweise hätten weiter vertieft werden können, betreffen die Frage nach Migration und Gender sowie die regionalen Räume Lateinamerikas, die im Sammelband kaum Bedeutung finden, jedoch in der Migrations- und Kunstgeschichte aufgrund ihrer besonderen ästhetisch-politischen Relevanz keineswegs vernachlässigt werden dürfen. Der Index bietet hinsichtlich der Suche nach Namen von Wissenschaftler:innen oder Künstler:innen eine gute Orientierung an. Aufgrund des Einführungscharakters wäre auch ein Verzeichnis über zentrale Begriffe von Vorteil gewesen. Wortwörtlich handelt es sich um kein 'leichtes Buch': Die gewichtige Bedeutung und auch Einforderung einer umfassenden Verhandlung von Migration in der Kunst(geschichte) wird von dem Gewicht des 'Handbuches' unterstützt. Alle Beiträge des Sammelbandes sind auf englischer Sprache verfasst, was eine Stellungnahme internationaler Wissenschaftler:innen zum Thema ermöglicht hat und damit auch eine breite Leser:innenschaft anspricht.
Das Buch geht auf unterschiedliche Ansprüche und mögliche Anwendungsbereiche der Leser:innen ein: Es kann als thematisches Nachschlagewerk dienen, hat jedoch zugleich Einführungs- und Vertiefungscharakter in die aktuellen Diskurse zum Thema 'Kunst und globale Migration'. Für die zeitgenössische Kunstwissenschaft kann dieser Sammelband deshalb als ein unverzichtbares Werkzeug in der Erarbeitung grundlegender theoretischer und künstlerischer Ansätze betrachtet werden.
Lena Geuer