Horst Günther Linke: Fürst Aleksandr M. Gorčakov (1798-1883). Kanzler des russischen Reiches unter Zar Alexander II., Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2020, XIII + 1119 S., ISBN 978-3-506-70321-7, EUR 148,00
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Gelegentlich wird Fürst Aleksandr M. Gorčakov in einem Atemzug mit Metternich und Bismarck genannt, wenn es darum geht, den großen Linien der internationalen Politik des 19. Jahrhunderts jeweils ein markantes Gesicht zuzuordnen. Doch wofür stünde dann der russische Diplomat in diesem vermeintlichen Dreigestirn erhabener Staatenlenker? Die Studie von Horst Günter Linke bietet nun Gelegenheit, diese Frage minutiös und nahezu erschöpfend zu klären. Dem Verfasser, einem ausgewiesenen Kenner der Geschichte der russischen und sowjetischen Außenpolitik, geht es weniger um eine Biographie im engeren Sinne. Vielmehr legt er eine klassische außenpolitische Studie vor, die Gorčakovs Wirken als Spitzendiplomat und Regierungschef vor allem nach 1856 untersucht. Die durchaus illustre und lange Vorgeschichte - also Herkunft, Sozialisation, diplomatischer Werdegang und "Bewährungsprobe" des bereits über Fünzigjährigen im außenpolitischen Gemenge des Krimkriegs - wird im einleitenden ersten Kapitel komprimiert. Es folgen vier umfängliche Hauptkapitel. Sie sind der Findungsphase als Außenminister, dem imperialistischen Ausgreifen Russlands nach Asien und dem spektakulären Verkauf Alaskas an die Vereinigten Staaten von Amerika, den Folgen der Gründung des Deutschen Reiches für das Verhältnis Russlands zu Europa sowie der ambitionierten Großmachtstrategie Gorčakovs nach 1871 gewidmet. Warum Gorčakovs Stern vor und nach dem Berliner Kongress von 1878 sank, ist Gegenstand eines Epilogs. Den Band beschließen eine Bilanz, einige Abbildungen und Karten, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister. Bei diesem Umfang sind von der Leserschaft Geduld und Ausdauer gefordert, denn nur dann erschließt sich der Reichtum sprechender Details, treffender Zitate und besonnener Argumentation.
Vorab sei angemerkt, dass etwas mit der "Bismarck-Scholastik" (Peter Rassow) Vergleichbares nicht zutage gefördert wird. So allgegenwärtig Gorčakov in seiner Epoche gewesen sein mag, seine Politik bewegte vor allem die Zeitgenossen, insbesondere die aufkommende Boulevardpresse, während nachfolgende Generationen seinen Namen eher beiläufig mit den Weichenstellungen des Imperiums verbanden. Jedenfalls verhielt sich die russische Historiographie ihm gegenüber verhalten, was im Übrigen auch einer traditionell restriktiven Editionspraxis bei diplomatischen Akten entspricht. [1] Diesbezüglich bestätigt der historische Roman des sowjetischen Skandalautors Valentin Pikul' ("Die Schlacht der eisernen Kanzler", 1977) die Regel, indem er, großzügig mit den Fakten spielend, die Rivalität Bismarcks und Gorčakovs zum Duell zweier Titanen stilisierte. Aus dem Blick geriet, dass beide im jeweiligen Machtgefüge ganz unterschiedliche Funktionen erfüllten, nicht aber über die gleichen Kompetenzen verfügten, wie ein Vergleich der Verfassungsrealität des wilhelminischen und des romanowschen Kaiserreiches bestätigen würde. Die Prärogative lag stets beim Zaren, ungeachtet mancher Ämterhäufung und schillernder Ehrentitel. [2] Nach Gorčakov wurde der Titel "Kanzler des Russländischen Imperiums" bis zum Ende der Monarchie nicht wieder vergeben.
Horst Günter Linke folgt in seiner Studie nicht den Impulsen, die neuerdings vom Konzept einer "Kulturgeschichte der Außenpolitik" beziehungsweise einer "Geschichte der internationalen Politik" ausgehen und die Diplomatiegeschichte mit anderen historischen Disziplinen ins Gespräch bringen wollen. Gleichwohl bietet er reiches Material, solche Ansätze für die Außenpolitik des 19. Jahrhunderts fruchtbar zu machen. Denn Gorčakov entsprach sehr weitgehend dem Ideal einer imperialen Eliteschulung, die unter Alexander I. mit dem 1811 gegründeten Lyzeum von Carskoe Selo erprobt wurde. Wie Aleksandr S. Puškin zählte der hochtalentierte Gorčakov zum ersten Jahrgang von Absolventen und wurde, da er seine Kommilitonen um viele Jahre überlebte, zum Relikt einer untergegangenen Epoche. Trotz eines gewaltigen Pensums war den Eleven genügend Muße geblieben, in den mondänen Salons ein und aus zu gehen, Zerstreuung zu suchen und einen exklusiven Freundschaftskult zu pflegen. In zwei Gedichten pries Puškin Gorčakov, der mit Auszeichnung abschloss, zugleich als "Zögling der Moden" und "Freund der Großen Welt". Carskoe Selo wurde dabei zur Miniatur eines "Vaterlands" verklärt, in dessen Realität die Günstlinge des Glücks alsbald eintreten sollten. Wie nur wenige wurde Gorčakov zum Zeugen jener Zäsuren, die nicht nur das Zarenreich, sondern ganz Europa grundlegend veränderten - angefangen bei den napoleonischen Kriegen und der Dekabristenbewegung, über die revolutionären Krisen in Mitteleuropa und den Krimkrieg, das Zeitalter der Großen Reformen und das Jahrzehnt des Terrors bis hin zum diplomatischen Erdbeben des Berliner Kongresses.
Die Unterkapitel in Linkes Opus Magnum kommen kleinen Monographien nahe. Darin zeichnet der Autor Gorčakovs Wirken in unterschiedlichen Kontexten und Personenkonstellationen nach. Unter Graf Nesselrode rasch aufgestiegen, lernte Gorčakov zu Beginn der 1820er Jahre in Troppau, Laibach und Verona die Geheimnisse der Konferenzdiplomatie kennen, bevor er in wechselnder Verwendung an die russischen Botschaften in London, Rom, Berlin und Florenz entsandt wurde. Eine Sondermission nach Stuttgart konfrontierte ihn mit dem Vormärz und den revolutionären Ereignissen von 1848/49 in Frankfurt am Main, wo er kurzzeitig die zusätzliche Aufgabe eines Bevollmächtigten bei der Deutschen Bundesversammlung übernahm.
Russlands wachsender Einfluss in Deutschland schien opportun, um dem noch immer postulierten Ideal eines "allgemeinen Friedens" näher zu kommen. Die Niederlage im Krimkrieg verschob indessen die Koordinaten der Außenpolitik. Graf Nesselrode trat zurück. Erst jetzt schlug Gorčakovs Stunde, doch trat er ein schwieriges Erbe an. Sankt Petersburg hatte seine Vorzugsstellung in den europäischen Angelegenheiten verloren. Der neue Außenminister wollte Russland nicht nur zu alter Größe zurückführen, sondern seine Stellung weiter auszubauen. Doch war ihm nur ein großer Erfolg beschieden - die Aufhebung der restriktiven Pontus-Klauseln im Pariser Frieden von 1856. Die dafür notwendigen Zugeständnisse brachten neue Komplikationen mit sich. Zwar hatte es sich ausgezahlt, auf die preußisch-deutsche und nicht auf die österreichische Karte zu setzen. Doch wurde dies 1870/71 mit einer Entfremdung Frankreichs erkauft, das Gorčakov als Partner eigentlich favorisierte.
Gorčakovs Gesamtleistung als Außenpolitiker und Staatsmann wird von Horst Günter Linke in bislang unerreichter Breite und Tiefe erörtert. Schritt für Schritt wird nachvollziehbar, dass sich der um Ausgleich der Interessen bemühte Gorčakov der Dynamik der internationalen Lage, insbesondere der Interdependenz zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen "orientalischer", "polnischer" und "deutscher Frage", immer weniger gewachsen zeigte. Die große Gunst des Zaren für den von ihm berufenen Außenminister erwiderte dieser mit außerordentlicher Loyalität, sieht man davon ab, dass ihn seine Neigung zu Hypochondrie und Selbstverliebtheit oder sein "unstillbares Geltungsbedürfnis" (15) zu mancher Camouflage verleitete, von der es am Ende hieß, er klammere sich "greisenhaft" an sein Amt (1004). Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass beide auf je eigene Weise scheiterten - der Reformzar wurde 1881 Opfer eines Terroranschlags, sein Kanzler musste den vermeintlichen Triumph von San Stefano nach dem Russisch-Türkischen Krieg auf dem Berliner Kongress 1878 wieder verloren geben.
Mit seinem Werk, an dem er über viele Jahre gearbeitet und für das er neben Beständen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts insbesondere Akten einschlägiger russischer Archive konsultiert hat, krönt der Verfasser ein Lebenswerk, das neben einer Vielzahl von Einzelbeiträgen auch eine Studie über Russlands Diplomatie und Kriegsziele im Ersten Weltkrieg (1982) sowie eine Quellensammlung zu den deutsch-russischen Beziehungen zwischen 1801 und 1917 umfasst.
Anmerkungen:
[1] Vnešnjaja politika Rossii XIX i načala XX veka. Dokumenty rossijskogo ministerstva inostrannych del, Serie I (Bd. 1-8), Moskau 1960-1972; Serie II (Bd. 1(9)-8(16)), Moskau 1974-1995. Der bislang letzte Band 17 (ohne Serienangabe) erschien 2005 und enthält Akten des Zeitraums von August 1830 bis Januar 1832.
[2] Vgl. Oleg R. Ajrapetov: Istorija vnešnej politiki Rossijskoj imperii. 1801-1914 gg., Bd. 3: Vnešnjaja politika imperatorov Aleksandra II i Aleksandra III. 1855-1894, Moskau 2018; Kancler A.M. Gorčakov. 200 let so dnja roždenija, hg. von E.M. Primakov u.a., Moskau 1998.
Nikolaus Katzer