Rezension über:

Andreas Zechner: Steinbock, Mensch und Klima. Das Ende der letzten autochthonen Steinwildpopulation der Ostalpen im Zillertal, 1687-1711 (= Umwelthistorische Forschungen; Bd. 10), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 279 S., 27 Abb., 12 Tbl., ISBN 978-3-412-52396-1, EUR 50,00
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Rezension von:
Maike Schmidt
Historisches Seminar, Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Maike Schmidt: Rezension von: Andreas Zechner: Steinbock, Mensch und Klima. Das Ende der letzten autochthonen Steinwildpopulation der Ostalpen im Zillertal, 1687-1711, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/36820.html


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Andreas Zechner: Steinbock, Mensch und Klima

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Die vorliegende Studie handelt vom Rückgang einer Wildtierpopulation, der sich unmittelbar nach dem sogenannten Großen Frost des Winters 1708/1709 ereignete, als u.a. Rhein und Donau mehrfach hintereinander zufroren und die Zahlen an Kältetoten eklatante Ausmaße annahmen. Konkret geht es um den Alpensteinbock, ein seltenes Tier, das dank Wiederansiedlungsmaßnahmen im 19. und 20. Jahrhundert heute keine akut bedrohte Art mehr ist. Anfang des 18. Jahrhunderts war er aus dem hinteren Zillertal - einem seiner letzten alpinen Habitate - nachweislich verschwunden. Andreas Zechners Studie, die an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg als Dissertation angenommen wurde, hat zum Ziel, die Ursachen dieses signifikanten Schwunds an der Schnittstelle zwischen Geschichtswissenschaft, Wildbiologie und Historischer Klimatologie zu erforschen. Es handelt sich um eine höchst interdisziplinäre Arbeit, deren Grundlage Verwaltungsschriftgut aus österreichischen Archiven, insbesondere dem Salzburger Landesarchiv, sowie eine große Bandbreite an chronikalen Wetterbeschreibungen ist. Für den klimatologischen Teil stützt sich der Autor auf z.T. in Datenbanken abrufbare historische Klimadaten und die Ergebnisse der sogenannten Wetternachhersage von Christian Pfister. [1] Daneben greift er auf (wild-)biologische Forschungen zum Steinbock, insbesondere zu rezenteren Populationsrückgängen, zurück und wendet das Verfahren der Populationsprognose auf historische Bestandsdaten an.

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob das "abrupte und zugleich unerklärliche Ende" (83) des Steinbockbestands in einen Zusammenhang mit den extremen Klimabedingungen gestellt werden kann oder ob menschliche Einflüsse dafür verantwortlich waren. Letzteres entspricht weitgehend bisherigen Deutungsansätzen, die das Ereignis auf übermäßige Wilderei und die herrschaftlich veranlassten Tierfänge zurückgeführt haben. Aus der Sicht des Autors greifen solche Ausrottungsannahmen zu kurz. Vielmehr geht er von einem Bündel an Faktoren aus, die letztlich dazu führten, dass die bereits labile Zillertaler Population den Großen Frost schlichtweg nicht überstand. Dies demonstriert Andreas Zechner überzeugend, indem er in zwei Großkapiteln zunächst anthropogene, dann natürliche Einflüsse gegeneinander abwägt. Dem Hauptteil vorgeschaltet ist ein Kapitel zu den historischen Rahmenbedingungen, in dem der Autor knapp Naturkunde und kulturgeschichtliche Relevanz des Steinbocks, die alpine Populationsentwicklung mit grundsätzlich abnehmender Tendenz seit dem Spätmittelalter sowie die administrativen Voraussetzungen des entlegenen und dünn besiedelten Reviers erklärt, das im 16. Jahrhundert an die Salzburger Erzbischöfe kam.

Insbesondere unter Johann Ernest von Thun (1687-1709) kam es zu obrigkeitlichen Kontroll- und Hegemaßnahmen, um das aus medizinischen und ökonomischen Gründen begehrte, aber seltene Tier zu "schützen" (70, 88). Dies schlug sich einerseits in einer Mehrung des Jagdpersonals nieder, das Wilderer abwehren und Salzsteine für die Steinböcke auslegen sollte, andererseits in der Jagdgesetzgebung und in herrschaftlich veranlassten "Entnahmen" von Steinböcken. Die obrigkeitlichen Interventionen sind im Kontext der Zeit zu sehen: Die wenig durchgesetzten Jagdordnungen, die übrigens nicht nur auf den Steinbock abzielten, dienten der (nur peripher thematisierten) Demonstration herrschaftlicher Macht, bei der ständische Repräsentation und ökonomisch motivierte Ressourcensicherung Hand in Hand gingen. "Schutz" muss hier entsprechend klar vom modernen Natur- und Tierschutz abgegrenzt werden. Dass die Erzbischöfe sich sehr um das entlegene Steinbockrevier bemühten, hatte im Unterschied zu nichtalpinen west- und mitteleuropäischen Jagdterrains tatsächlich weniger mit der Exklusivierung von Räumen, denn mit dem Steinbock an sich zu tun. Aus dem geschichtswissenschaftlichen Teil geht nicht genau hervor, in was die "herrschaftliche Jagd" eigentlich bestand. Zwar erwähnt der Autor am Rande offizielle herrschaftliche Steinbockjagden, im Vergleich zu nichtalpinen Praktiken (Parforcejagd, Beizjagd, eingestellte Jagden) dürften solche auf das Erlebnis, nicht (nur) auf den Ertrag zielende Veranstaltungen im steilen Gelände wohl eher Seltenheitswert gehabt haben.

Unter Jagd fasst Andreas Zechner die herrschaftlich veranlassten Lebendfänge, die Johann Ernest seinem Tiergarten zuführte, um dort ein regelrechtes Zuchtprogramm mit Zillertaler Steinböcken umzusetzen, über das der Leser bedauerlicherweise kaum etwas erfährt. Zudem kam es 1698 zur Gründung einer Steinbockkolonie im dafür wenig geeigneten Tennengebirge (114, 122), die man durch neue Jägerstellen und eingeschränkte Almwirtschaft weitestgehend abschirmte. 68 Entnahmen sind für den Gesamtzeitraum dokumentiert. Die tatsächliche Zahl dürfte, wie auch bei der als "eher latent" bewerteten Wilderei (109, 228), bedeutend höher gelegen haben. Das Scheitern dieser Maßnahmen, den Steinbock zu mehren, ist einerseits auf Abwanderung zurückzuführen, andererseits auf die Tatsache, dass die Tiere während oder infolge des Transports in Kisten (118) schlichtweg verendeten. Dass die Bestandserhaltung keineswegs alleiniges Motiv war, zeigen übrigens die am Rande erwähnten Steinbock-Geschenke für Joseph I. in Wien (130, 136). Aus historischer Sicht wäre man in der Tat dazu verleitet, diese Eingriffe als verheerend zu bewerten, wäre da nicht die Populationsprognose. Ausgehend von den in den Quellen dokumentierten Zahlen kann Andreas Zechner nachweisen, dass die "Entnahmen" nachweislich nicht zur Ausrottung der Steinböcke geführt haben können, die Population aber durchaus in einen kritischen Zustand versetzten. Die mathematischen Formeln des Verfahrens lassen den Leser etwas irritiert zurück (134f.), verdeutlichen aber, wie eklatant sich natürliche Faktoren, wie die hohe Wintermortalität, auf die Entwicklung der Bestände auswirkten.

Die Populationsprognose leitet zum zweiten Teil der Arbeit über, der die massive Auswirkung klimatischer Einflüsse auf die Existenz der Steinböcke herausstellt. Der Autor liefert zunächst eine auf u.a. chronikalen Quellen basierende Klimageschichte des frühneuzeitlichen Mitteleuropa, um dann auf die verheerenden Auswirkungen des Großen Frosts von 1708/09 einzugehen - der kälteste Winter der letzten 500 Jahre. Wenngleich speziell für das Zillertal kaum Wetterbeschreibungen vorliegen, kann der Autor aus den überregionalen Daten die erwartbaren klimatischen Veränderungen für die alpinen Hochlagen überzeugend rekonstruieren. Nicht die Kälte setzte den Steinböcken zu, sondern die bis zum Sommer anhaltende Schneedecke, die den Lebensraum enger und die Nahrungsaufnahme nahezu unmöglich machte. Dies führte dazu, dass 1710/11 keins der einst 180 Exemplare mehr lebte. Das Populationsende sei laut Autor demnach auf eine unglückliche Verkettung von anthropogenen Einflüssen, populationsinternen Faktoren und ungünstigen Klimabedingungen zurückzuführen.

Die Studie ist allein deshalb lesenswert, weil sie die historische Existenz des Steinbocks nicht nur am Menschen misst. Zur Verortung von Tieren in der Geschichte sind Kompetenzen unterschiedlicher Fächer notwendig. Wenngleich wir nur über menschengemachte Quellen verfügen, so war und ist die tierliche Lebensrealität, wie Helen Macdonald am Beispiel des Habichts verdeutlicht hat [2], nun einmal nichtmenschlich. Gleichwohl zeigen sich auch die Grenzen der Kombination geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methoden: wenn beide bespielt werden, kommt es unvermeidbar zu Einbußen. Hätten die Steinböcke den Extremwinter überlebt, wenn es die suboptimale Entscheidung des Salzburger Erzbischofs nicht gegeben hätte, eine erhebliche Anzahl in einen gänzlich ungeeigneten Lebensraum überzusiedeln? Wäre demnach nicht anthropogenen Faktoren, die die Tiere insoweit schwächten, dass sie kaum mehr eine Chance hatten, unter extremen Naturbedingungen zu überleben, rein qualitativ ein hoher Stellenwert einzuräumen? Aus der Sicht der Jagdhistorikerin hätten die tatsächliche Dimension herrschaftlicher Jagd und die "biopolitischen" Maßnahmen in Bezug auf die Steinböcke bedeutend mehr Raum verdient, um ein qualitativ belastbares Bild der Gesamtlage zu erhalten. Dies schmälert nicht den Erkenntnisgewinn der gewählten Methodik, sondern bietet einen (geschichtswissenschaftlichen) Anknüpfungspunkt.


Anmerkungen:

[1] Christian Pfister: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995), Bern / Stuttgart / Wien 1999.

[2] Helen Macdonald: H is for Hawk. London 2014.

Maike Schmidt