Frank Uekötter: Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 380 S., 25 Abb., ISBN 978-3-515-13257-2, EUR 29,00
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Kurz vor der durch den Ukraine-Konflikt angeheizten Diskussion über die Laufzeitverlängerung der letzten drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke beendete der deutsch-britische Umwelthistoriker Uekötter seine Geschichte der Kernenergie in Deutschland. Das Buch ist seinem akademischen Lehrer Joachim Radkau gewidmet, der vor 40 Jahren die bahnbrechende Geschichte vom "Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft" vorgelegt hat. [1] Uekötter verweist an vielen Stellen auf Radkaus Arbeiten und schließt mit vielem dort an, wo Radkaus Habilitationsschrift zeitlich endete. Ausgehend von den Anti-AKW-Protesten im schleswig-holsteinischen Brokdorf im Jahre 1976 analysiert Uekötter in acht Kapiteln, Zusammenfassung und historiographischen Nachwort "eine Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie" (10). Ein Kapitel widmet er der Entwicklung in der DDR. Er stützt sich auf umfangreiche Archivrecherchen etwa im Bundesarchiv, Landes- und Parteiarchiven oder im Gorleben-Archiv sowie auf Presse, graue Literatur etwa des Atomprotestes und die einschlägige Literatur besonders jüngeren Datums. Zeitzeugengespräche sind nicht aufgeführt.
30 Fotos mit zum Teil ikonischer Bedeutung für den Atomkraftprotest, wie etwa die langjährige Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Marianne Fritzen, im Gespräch mit mit Schlagstöcken und Helmen ausgerüsteten Bereitschaftspolizisten, illustrieren kongenial den Text. Uekötters Stärke besteht darin, sowohl die Stimmungen in der nuklearen Community, in der Politik sowie im zivilgesellschaftlichen Protest treffend auf den Punkt zu bringen. Er zeigt Umschwünge und Entwicklungen der letzten siebzig Jahre mit Schwerpunkt auf die 1970er bis 1990er Jahren auf.
Er erwähnt auch die Janusköpfigkeit der Kernenergie mit ihrem Ursprung aus der Entwicklung der Atombombe, welche die zivile Nutzung bis heute überschattet und ein umfangreiches Proliferationsmanagement notwendig macht. Als Bundeskanzler Adenauer (CDU) Atomwaffen als "Weiterentwicklung der Artillerie" bezeichnete, beantworteten achtzehn Kernforscher das mit der Göttinger Erklärung, die den Impuls für die "Kampf dem Atomtod"-Kampagne lieferte. Sie ging als "erster Massenprotest der bundesdeutschen Atomgeschichte" (62) in die Annalen ein. Sodann behandelt Uekötter die durch Radkau und den ehemaligen Chefredakteur der Zeitschrift atomwirtschaft, Wolfgang Müller [2], gut bekannte Kernenergieentwicklung. Nach der "Gründerzeit" in den 1950er Jahren, folgten die "Mühen der Ebene" in den 1960er Jahren, und die 1970er Jahre standen im Zeichen des "Baubooms und des zivilgesellschaftlichen Protests" (207).
Nach der anfänglichen Euphorie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre hatten Politik und Regierung schnell das Interesse an der praktischen Ausgestaltung verloren und überließen die Verhandlungen über Kraftwerksprojekte (und so muss hinzugefügt werden auch der Projekte der nuklearen Entsorgung) schnell den niederen Chargen in den Ministerien. Zurecht weist Uekötter darauf hin, dass es sich bei der Atomwirtschaft niemals um eine homogene Gemeinschaft gehandelt hat, sondern die Interessen von Stromkonzernen und Reaktorherstellern, ebenso wie die Interessen innerhalb der Konzerne, unterschiedlich sind und waren. So hielten sich etwa die Rheinisch-Westfälischen-Elektrizitätswerke bis Ende der 1960er Jahre mit ihrem Engagement zurück, da sie aufgrund der rheinischen Braunkohlevorkommen über große und preiswerte Stromerzeugungskapazitäten verfügte. Erst mit dem Atomkraftwerk Biblis, das weltweit erste mit mehr als 1.000 Megawatt Nennleistung, setzte sich Deutschlands größtes Elektrizitätsversorgungsunternehmen an die Spitze der Proatomkraftbewegung.
Auch liebäugelte die deutsche Chemieindustrie mit dem Einstieg ins Nukleargeschäft. Neben dem von Uekötter erwähnten Ludwigshafener Reaktorprojekt der BASF hätte hier das Engagement bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente genannt werden müssen. Sie wurde schon zeitgenössisch wegen der Schwierigkeiten bei der Realisierung als "Stiefkind" der Kerntechnik bezeichnet. [3] Im "progressiven Fachvolksmund" wurde die Versuchswiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK) scherzhaft nach dem langjährigen Präsidenten des Deutschen Atomforums und Vorstandsvorsitzenden von Hoechst als "Winnackers alte Klamotte" [4] tituliert. Sie war deswegen so wichtig, weil das kerntechnische Leitbild einen geschlossenen "nuclear fuel cycle" bzw. Brennstoffkreislauf vorsah, der neben der Versorgung (Kernkraftwerke), auch die Entsorgung (Wiederaufarbeitung und Endlagerung) gewährleisten sollte. Die Wiederaufarbeitung als chemisches Verfahren war außerdem mit der Hoffnung auf kommerziellen Erfolg für Hoechst verbunden. Es sollte wertvolles Uran recycelt und außerdem Plutonium als Brennstoff für den "Schnellen Brüter" gewonnen werden. Dieses Plutonium sollte - im "Schnellen Brüter" eingesetzt - mehr neuen Brennstoff produzieren als verbrauchen und dem Traum vom "Perpetuum mobile" nahekommen. Doch 1985 versagte die nordrhein-westfälische Landesregierung dem fertig gebauten Reaktor in Kalkar die Betriebsgenehmigung, wobei die erforderliche Brutrate nicht erreicht worden wäre und ständige Verzögerungen und Kostensteigerungen für Unmut sorgten.
Ein ähnliches Schicksal erlitt der Thoriumhochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop, der zwar wenige Jahre in Betrieb war, aber aufgrund technischer Schwierigkeiten sein Potential nie ausschöpfte. Daneben lief es bei den konventionellen Leichtwasserreaktoren, die sich in den 1960er Jahren durchgesetzt hatten und von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre in Betrieb gingen, vergleichsweise besser was Wirtschaftlichkeit und Umsetzung betrifft. Ausnahmen gab es jedoch, wie das RWE-Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich, das in der Nuklear-Community als "Mühsam-Kläglich" (150) in Erinnerung blieb.
Eine bundesdeutsche Innovation im Kernenergieausbau und -betrieb war das von Uekötter erwähnte, aber nur unzureichend gewürdigte Entsorgungsjunktim, das die sozial-liberale Bundesregierung 1977 umsetzte. Wer ein Kernkraftwerk betreiben wollte, musste die Entsorgung der abgebrannten Brennelemente nachweisen (Entsorgungsvorsorgenachweis). Darauf, dass die Entsorgung "ungelöst" war, konnten sich Atombefürworter und -gegner in den Regierungsparteien einigen. Der Betrieb der Kernkraftwerke war nur dann verantwortbar, wenn die Betreiber Fortschritte zur Lösung unternahmen. Durch die Politik "des konstruktiven Zwangs" wurden die Stromkonzerne dazu gebracht, ein "Nukleares Entsorgungszentrum" bei Gorleben zu planen und zu forcieren, bis der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht (CDU) die große Wiederaufarbeitungsanlage in dem Projekt als technisch machbar, aber politisch nicht durchsetzbar ablehnte. Diesem Votum war der Nuklearunfall von Harrisburg sowie das Gorleben-Hearing und der phantasievolle Protest aus der Region (Gorleben-Treck) voraus gegangen - ein Erfolg der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie. Albrechts Kalkül, damit Gorleben als Endlagerstandort für alle Arten von radioaktiven Abfällen zu retten, ging jedoch nicht zuletzt aufgrund der Zweifel an der geologischen Eignung, des anhaltenden Protests und der Lehren hieraus nicht auf.
Uekötter geht auch die bekannten Stationen der nuklearen Entsorgungsprojekte durch, erfasst aber deren Bedeutung als Achillesferse der Kernenergie in Deutschland nur unvollkommen. Dies gilt nicht nur auf technischer Ebene, sondern auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene, weil beispielsweise die strittige Diskussion um die CASTOR-Transporte und das Gorlebener Endlagerprojekt zu einer Dauerblockade führte. [5] Diese Blockade wurde mühsam durch den nicht erwähnten Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AkEnd) und ein Jahrzehnt später durch den pragmatischen baden-württembergischen Ministerpräsident Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) aufgelöst. Endpunkt war das sogenannte Standortauswahlgesetz.
Dass diese Entwicklung Uekötter nur kurze Bemerkungen in der Zusammenfassung wert sind, ist die Schwäche der "Atomaren Demokratie". Gerade in den ebenfalls nicht erwähnten Untersuchungsausschüssen zum "Versuchsendlager" Asse (Landtag Niedersachsen) oder zu Gorleben (Deutscher Bundestag) oder in der an das Standortauswahlgesetz folgenden "Endlagerkommission", in der Bundes- und Landespolitiker zusammen mit Wissenschaftlern und Vertretern gesellschaftlicher Gruppen um konsensuale Lösungen rangen, zeigt sich doch, welche Blockaden die Verhandlungsdemokratie überwinden kann. Mithin ein wichtiges Argument für Uekötters Kernthese, dass die deutsche Atomgeschichte eine Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Demokratie ist.
Anmerkungen:
[1] Joachim Radkau: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbeck 1983.
[2] Wolfgang D. Müller: Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Bd. 1: Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, Bd. 2: Auf dem Weg zum Erfolg, Stuttgart 1996.
[3] Leopold Küchler: Die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoff, ein Stiefkind der Kerntechnik?, in: atw 1964, 246-250.
[4] Müller wie Fußnote 2, Bd. 2, 242.
[5] CASTOR-cask for storage and transport of radioactive material
Anselm Tiggemann