Sarah M. Guérin: French Gothic Ivories. Material Theologies and the Sculptors Craft, Cambridge: Cambridge University Press 2022, XIV + 319 S., zahlr. Abb., ISBN 978-1-316-51100-8, GBP 90,00
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Das von Sarah M. Guérin vorgelegte Buch umfasst auf 319 Seiten eine Einführung, sechs thematische Kapitel, einen Epilog, eine ausführliche Literaturliste, welche Primärquellen sowie die Sekundärbibliographie aufführt, und einen Index. Enthalten sind 216 farbige Abbildungen von sehr guter Qualität, die hauptsächlich Elfenbeinschnitzereien reproduzieren.
Während sich die gotische Elfenbeinforschung bis jetzt vor allem mit den Datierungs- und Stilproblemen, der Beschreibung sowie der Klassifikation der Objekte befasste, präsentiert Guérin die erste synthetische Untersuchung gotischer Elfenbeine in ihrem sozialen und theologischen Kontext. Dabei werden diverse Quellentexte in Bezug auf das zeitgenössische wissenschaftliche, exegetische und literarische Verständnis des Materials analysiert. Auf der Basis dieser Erkenntnisse eruiert Guérin die typischen Formen, Ikonographien und Funktionen der zwischen 1230 und 1330 produzierten gotischen Elfenbeinschnitzereien. So versteht sie das Material als realen, bedeutungsvollen und wirksamen Träger für die mittelalterlichen Benutzer:innen (2).
Im ersten Kapitel (17-59) rekonstruiert Guérin den Weg der Elfenbeinstosszähne auf den interkontinentalen Handelsrouten von Afrika nach Nordeuropa, zu den Werkbänken der spezialisierten Kunsthandwerker im mittelalterlichen Paris und schliesslich bis zu den potenziellen Kund:innen der Oberschicht. Die Untersuchung der unterschiedlichen Textressourcen (Haushaltsrechnungen, Inventare, Verträge, Steuerregister, Zunftordnungen) beweist, welche Kunsthandwerker welche Objekte des plötzlich in grossen Mengen auf dem nordwesteuropäischen Markt erschienenen neuen Materials anfertigten, wie die Auftraggeber mit ihnen umgingen, und wie die anfänglichen Einzelaufträge im Laufe der Zeit in einer veritablen Industrie resultierten. Die Spezialist:innen trugen verschiedene Bezeichnungen, die erklärt und verordnet werden. Von Interesse sind die detaillierten Ausführungen zur Werkstattorganisation sowie zum Kaufverhalten der reichen Kundschaft - insbesondere um das Königshaus der Kapetinger -, die erklären, warum Paris das europäische Zentrum der Elfenbeinschnitzerei wurde (60). Die zehn ausgezeichneten schematischen Illustrationen im Buch (Diagramme, Pläne, Rekonstruktionen, Stammbäume und Listen) tragen enorm zum Verständnis der oft komplizierten und dementsprechend teilweise schwierig nachvollziehbaren Ausführungen bei.
In den Kapiteln zwei bis sechs wird chronologisch jeweils der Verwendungskontext und die spezifische Bedeutung einer Kunstwerkart erhellt, darunter freistehende Statuetten, Diptychen, Schreibtäfelchen, Tabernakel und Altarbilder. In jeder Gruppe werden umfassende Vergleiche und gründliche Beobachtungen der Technik getätigt, die adäquat von zahlreichen Detailabbildungen sowie verschiedenen Objektansichten veranschaulicht werden. In Anbetracht der spärlichen Textbelege ist es allerdings oftmals eine Herausforderung, die künstlerische Intention von den Vorgaben der Auftraggeber:innen zu unterscheiden.
Ein großer Verdienst der Studie ist es, neue Interpretationen der Resonanz zu bieten, welche das Material und die Schnitzereien auf die Hersteller:innen und Betrachter:innen ausübten. So wird mit Hilfe alttestamentlicher Stellen (beispielsweise Psalm 44:7-10; 3 Könige 10:18) wie auch verschiedener zeitgenössischer Predigten aufgezeigt, warum Elfenbein als geeignetes Gefäss für Christus angesehen wurde und sich daraus die Mariastatuetten mit dem Christuskind entwickelten (60-90). Guérin ist der Meinung, dass solche Bilder kraft des Materials auf subtile Weise die gesamte Heilsgeschichte andeuten können (79). Mit der Verfügbarkeit von großen Elfenbeinzähnen wird die Produktion von devotionalen Diptychen mit der Passion Christi realisierbar (91-132). Vor einem mikro-architekturalen Rahmen entfaltet sich im tiefen Relief ein dichtes Narrativ, welches Guérin mit einem besonderen Fokus auf die anti-jüdische Rhetorik ausführt. Ein Augenmerk könnte hier noch auf den Ursprung der Form (byzantinisch?) wie auch auf spezifische Ikonographien gerichtet werden, die von der zeitgenössischen byzantinischen Entwicklung kaum zu trennen sind.
In den Kapiteln vier bis sechs kann Guérin mit einer Reihe von textlichen und architektonischen Argumenten die bedeutende Rolle der neuen Elfenbeinformen als Fokus der Kommemorationen in privaten Kapellen wie auch als Objekte in öffentlichen, liturgischen Orten belegen (133-255). Dabei zielt sie jeweils auf die umfängliche Wahrnehmung der zeitgenössischen Betrachter:innen. So ergründet sie beispielsweise auch das spätmittelalterliche Verständnis von der Präsenz der Keuschheit im elfenbeinernen Material (77, 156-162). Die prosopographische Analyse der dokumentarischen Aufzeichnungen hilft zudem die soziale Bedeutung vieler verschwundener oder nicht identifizierbarer gotischer Elfenbeine aufzudecken. Trotz der breiten Fragestellung der Studie gelingt es Guérin, konstant auf herausragende Elfenbeinbeinschnitzereien zu zoomen, welche sie gründlich jeweils in ihrem sozialen wie religiösen Kontext diskutiert.
Im Epilog lassen die bisher wenig untersuchten Inventare des Klarissenklosters von Longchamp eine religiöse Gemeinschaft erkennen, die eng mit dem Königshaus der Kapetinger verbunden und eine wichtige Abnehmerin von Devotionalien und liturgischen Elfenbeinarbeiten war (256-277). Guérin dokumentiert, dass der Rückgang des königlichen und aristokratischen Interesses an Elfenbeinschnitzereien mit dem Ende dieser royalen Linie 1328 einhergeht.
Neben der Bedeutung des Materials und der Biografie der Objekte einschliesslich des Kunsthandwerks, sind vor allem die Resultate bezüglich der Resonanz der Elfenbeine auf die damaligen Künstler und Käufer sowie der wechselnden Andachtspraktiken von großem Interesse. Die Arbeit von Guérin bietet eine wissenschaftliche wie auch methodische Grundlage, auf welcher die zukünftige Elfenbeinforschung aufbauen muss. Besonders wünschenswert ist diesbezüglich eine Studie zu den profanen Elfenbeinen und deren Verhältnis zu den religiösen Exemplaren.
Manuela Studer-Karlen