Erik Radisch: Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe als Konsensimperium (1949-1971) (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 94), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 414 S., eine s/w-Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-515-13273-2, EUR 64,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Erik Radischs Dissertation zum Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) als Institution imperialer Herrschaft steht für das in den letzten Jahren wiedererwachte Interesse junger Historikerinnen und Historiker am RGW. Nachdem die verhältnismäßig umfangreiche Erforschung der Institution in den 1980er Jahren sie vornehmlich als defizitär und wenig erfolgreich charakterisierte, erlosch das Interesse an ihr seit Ende der 1990er Jahre fast vollends. Dem Narrativ des Scheiterns, was sich insbesondere auf die Bemühungen der wirtschaftlichen Integration bezog, versuchen neuere Forschungen mit anders gelagerten Fragestellungen und neuen Zugängen ein differenzierteres Bild entgegenzusetzen. [1]
Die Frage nach der wirtschaftlichen Integration innerhalb des Blocks und deren Erfolg oder Scheitern steht somit auch nicht im Zentrum Erik Radischs Forschungsinteresses. Vielmehr interessiert er sich für die Herrschaftsstrukturen innerhalb des RGW und geht der Frage nach, inwieweit diese vorrangig wirtschaftliche Organisation der Sowjetunion als Instrument der imperialen Einflussnahme in Osteuropa diente. Er ist überzeugt, mit dem Imperiums-Begriff Herrschaftsverhältnisse und Aushandlungsprozesse im Ostblock neu bewerten zu können und die Debatte über das sowjetische Imperium um die wirtschaftliche Perspektive erweitern zu können. Den Zeitraum von der Gründung des RGW bis zur Verabschiedung des Komplex-Programmes 1971 gliedert er in vier Phasen: Die Stalin-Periode, die Entstalinisierung im RGW, Chruščevs Versuche zur Implementierung supranationaler Plankoordination in den 1960er Jahren und die Konsolidierung der bis dahin etablierten RGW-Strukturen unter Brežnev. Während der RGW unter Stalin bis jetzt oft als Papiertiger ohne viel Autorität und Handlungsspielraum galt [2], kommt Radisch in Bezug auf seine imperiale Bedeutung zu einem anderen Ergebnis. Er argumentiert, dass der Stalinismus auch im RGW strukturgebend für das sowjetische Imperium war und in dieser Zeit Weichen gestellt wurden, die die Zukunft des Rates maßgeblich prägten. In der Folge sollte auch die Entstalinisierung eine zentrale Rolle in der Ausgestaltung des Rates spielen. Sie trug dazu bei, so die zweite These, dass sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und ihren 'Satelliten' von einem quasi formalen Imperium unter Stalin hin zu einem informalen Imperium wandelte, bei dem "konsultative Anleitung" (17) durch die Sowjetunion an die Stelle direkter Kontrolle trat. Die Gestaltungsspielräume des Zentrums, die in der Stalin-Ära noch hoch waren, gingen sukzessiv zurück und der RGW wandelte sich zu einem 'Konsensimperium'.
Die Studie fußt auf einem beachtlichen Korpus von teils bis dato unausgewerteten Archivquellen vornehmlich aus den Moskauer Archiven wie dem RGAĖ (Russisches Staatsarchiv für Ökonomie), GARF (Staatsarchiv der Russischen Föderation), RGASPI (Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte) und RGANI (Russisches Staatsarchiv für neuere Geschichte) sowie ergänzenden Auswertungen von Beständen des Bundesarchivs.
Im Stalinismus, so argumentiert der Autor im ersten Teil, trug neben dem Terror das System der sowjetischen Berater zur Etablierung imperialer Strukturen im RGW bei. Diese Berater nahmen eine zentrale Funktion bei der Errichtung stalinistischer Systeme in den Volksrepubliken ein. Über ihre wirtschaftlichen Empfehlungen, die Befehlen gleichkamen, sicherte sich die Sowjetunion Kontrolle über Entscheidungsprozesse im entstehenden Imperium. Die Periode von der Gründung des RGW bis zum Tod Stalins bezeichnet Radisch als Phase der imperialen Expansion, in der die Sowjetunion mithilfe des Beratersystems ein quasi formales Imperium in Osteuropa installierte.
Mit dem asynchron verlaufenden Prozess der Entstalinisierung Mitte der 1950er Jahre und dem Niedergang des Beratersystems büßte die Sowjetunion an Kontrolle auf die Volksrepubliken ein. Sie begann, sich für eine multilaterale Plankoordination einzusetzen und ihren Einfluss mit Mitteln der "konsultativen Anleitung der Bruderparteien" (129) geltend zu machen. Im vormals durch direkte Kontrolle geprägten Rat wurden sukzessive Strukturen einer internationalen Organisation etabliert, was der Autor unter den Schlagworten 'Internationalisierung' und 'Institutionalisierung' behandelt.
Die 1960er Jahre standen im Zeichen der Bemühungen Chruščevs, im RGW eine gemeinsame Plankoordination und Prinzipien der sozialistischen Arbeitsteilung umzusetzen. Seine Reformbemühungen scheiterten jedoch an der Opposition Rumäniens, das die zunehmenden Spannungen zwischen der Sowjetunion und China geschickt für seine Interessen nutzen konnte. Radisch urteilt, dass die Sowjetunion mit der Entstalinisierung ihre Einflussmöglichkeiten verloren hatte und Chruščevs erfolglose Reformversuche das Imperium zunehmend destabilisierten.
Brežnevs auf Konsens ausgelegter Politik gelang dann zu Beginn der 1970er Jahre eine Konsolidierung der imperialen Strukturen. Er knüpfte an den seit der Stalin-Zeit gewachsenen strukturellen Bilateralismus an und nutzte die gewachsenen Institutionen des RGW für die sowjetischen Interessen aus. Reformbestrebungen traten deutlich in den Hintergrund. Mit einer Rückkehr zur "imperialen Trägheit" verfestigte Brežnevs Politik das sowjetische Imperium im RGW (348).
Während die Frage, ob es sich bei den Beziehungen der Sowjetunion zu ihrer Einflusssphäre in Osteuropa im allgemeinen um imperiale Strukturen handelt, weniger strittig ist, wird der imperiale Charakter des RGW kontrovers diskutiert. Max Trecker argumentiert beispielsweise mit der Imperiums-Definition von Alexander Motyl in Bezug auf den RGW genau gegensätzlich. Mit zunehmender Internationalisierung des Rates unter Chruščev nahm die Kommunikation zwischen den Peripherien zu und störte den exklusiven Zugriff auf Informationsflüsse zwischen Zentrum und Peripherien. Nach dieser Definition hört der RGW mit zunehmender Institutionalisierung nach Stalin auf, imperial zu sein. [3] Ohne Radischs Argument von der Weiterentwicklung des RGW in ein 'Konsensimperium' grundsätzlich in Frage zu stellen, macht diese alternative Betrachtung doch deutlich, dass die Herrschaftsstrukturen im RGW nach Stalins Tod in eine deutlich andere Phase traten und der imperiale Charakter des Rates weniger eindeutig ist.
Meines Erachtens liegt die Stärke von Radischs Analyse mithilfe des Imperiumsbegriffs auf der Neubewertung der Stalin-Ära. Die Tatsache, dass die Sowjetunion ihre Herrschaftsansprüche über die osteuropäischen Volksrepubliken mithilfe des Beratersystems ausbauen und somit eine imperiale Kontroll-Institution schaffen konnte, ist schlüssig und stellt eine Neubewertung dieser frühen RGW-Phase dar, die früheren Forschungen als belanglos galt. Radisch zeigt überzeugend, dass die im Stalinismus angelegten Strukturen des RGW, wie zum Beispiel der 'strukturelle Bilateralismus' in den folgenden Jahrzehnten trotz aller Reformbemühungen fortbestanden und den Rat bis zum Schluss prägten. Für die späteren Phasen, in denen die Sowjetunion ihre direkte Kontrolle einbüßte und die RGW-Arbeit deutlich multilateraler wurde, ist die Imperiumsthese weniger eindeutig zu belegen. Diese Ambivalenz macht die Arbeit besonders interessant und somit leistet sie einen wertvollen Beitrag, den RGW aus der Versenkung zu holen und das Forschungsinteresse an ihm mit neuen Forschungsfragen wiederzubeleben.
Anmerkungen:
[1] Uwe Müller: Introduction: Failed and Forgotten? New Perspectives on the History of the Council for Mutual Economic Assistance, in: Comparativ 27 (2017) H. 5, 7-25.
[2] Randall W. Stone: Satellites and Commissars. Strategy and Conflict in the Politics of Soviet-bloc Trade, Princeton / Oxford 1996, 29.
[3] Max Trecker: Red Money for the Global South. East-South Economic Relations in the Cold War, Abingdon / New York 2020, 92.
Aurelia Ohlendorf