Rezension über:

Frank Engehausen: Werkstatt der Demokratie. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 , Frankfurt/M.: Campus 2023, 355 S., 55 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51651-6, EUR 34,00
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Rezension von:
Michael Wettengel
Stadtarchiv Ulm / Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Michael Wettengel: Rezension von: Frank Engehausen: Werkstatt der Demokratie. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 , Frankfurt/M.: Campus 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/37673.html


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Frank Engehausen: Werkstatt der Demokratie

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Unter den Publikationen zur Revolution von 1848/49 sind Darstellungen zur Deutschen Nationalversammlung relativ selten. [1] Sie steht, wie der Verfasser der vorliegenden Neuerscheinung betont, "eher am Rand des Interesses" (14). Dies ist ein bemerkenswerter Befund angesichts der zentralen Bedeutung, die die Nationalversammlung in der Revolutionszeit besaß. In einer der freiheitlichsten Wahlen der damaligen Zeit gewählt, traten die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlaments am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammen, um eine Verfassung für ein deutsches Reich zu beschließen. Die Einberufung eines nationalen Parlaments war ein wichtiger Gegenstand der Forderungskataloge des März 1848, und wie bei kaum einer anderen Institution der Revolutionszeit setzten die Menschen große Hoffnungen in die Nationalversammlung.

Frank Engehausen stellt seine neue Publikation zur Frankfurter Nationalversammlung unter den Titel "Werkstatt der Demokratie", der zugleich leitendes Motto ist. Das Buch ist thematisch geordnet und untersucht die Funktionsweise des ersten deutschen Nationalparlaments. Zentrale Ereignisse und Problemlagen werden daher nur in ihren Auswirkungen auf die Arbeit der Nationalversammlung behandelt. Der Verfasser fragt danach, welche Impulse "für die Etablierung einer demokratischen Praxis von einem Parlament" ausgingen, "in dem die Demokraten eine Minderheit bildeten und das statt einer republikanischen eine konstitutionell-monarchische Verfassungsordnung errichten wollte" (14).

Im ersten Teil unter der Überschrift "Die Nationalversammlung als Ort demokratischer Praxis" (19) wird zunächst die Rolle Frankfurts und der Paulskirche als Sitz des Parlaments thematisiert und dabei auch ein Ausblick auf die Diskussion um den Bundessitz 1948/49 gegeben. Es folgen die Abgeordneten, ihre Wahl, ihre politischen Positionen, die Anfänge der Fraktionsbildungen und die zahlreichen Karikaturen und Satiren über die Parlamentarier. Die von dem konservativen Abgeordneten Johann Hermann Detmold entworfene Parlamentarier-Karikatur "Piepmeyer" findet sich dabei als Motiv jeweils in verschiedenen Abschnitten des Buches wieder. Danach geht es um die Abläufe der Parlamentsarbeit, aber auch um die eigentlich nicht in der Geschäftsordnung vorgesehenen Fraktionen und um den geselligen und persönlichen Umgang der Abgeordneten untereinander. Dem Verhältnis der Nationalversammlung zur Bundesversammlung und zu den wechselnden Regierungen der Provisorischen Zentralgewalt gilt ein eigener Abschnitt, in dem auch die Krise um Schleswig-Holstein und den Waffenstillstand von Malmö behandelt wird. Den Abschluss bildet das Verhältnis der Nationalversammlung zur Öffentlichkeit, wobei es auch um die Septemberunruhen in Frankfurt sowie die politische Presse und die politischen Vereine geht.

Der zweite Teil ist den "Herausforderungen der Demokratie" (175) gewidmet. Die Diskussionen und Beschlüsse zu zentralen Themen wie den Grund- und Freiheitsrechten, der Rechtstaatlichkeit, den Fragen der Gleichheit, dem Wahlrecht, der Nationalstaatsbildung und den Staatsgrenzen sowie schließlich der Volkssouveränität und dem Reichsoberhaupt werden hier behandelt. Die Entstehung zukunftsweisender Errungenschaften der Nationalversammlung, wie beispielsweise der Grundrechtskatalog, das demokratische Männerwahlrecht, die Gewaltenteilung und der Minderheitenschutz, wird auf diese Weise übersichtlich und anschaulich präsentiert. Die Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV., die Reichsverfassungskampagne, die Auflösung der Nationalversammlung und ihr Ende als "Rumpfparlament" beschließen die Darstellung. Am Schluss des Bandes gibt der Verfasser ein Resümee und zugleich einen Ausblick auf die Zeit nach 1849. Er hebt die bleibenden Verdienste der Nationalversammlung hervor, die "Standards" gesetzt habe, "die nachfolgende Generationen nicht ignorieren konnten" (314). So wurden 1867, 1870 und 1871 die Verfassung des Norddeutschen Bundes und die Bismarcksche Reichsverfassung von den Abgeordneten der Parlamente ratifiziert, und mit dem demokratischen Männerwahlrecht wurde 1871 eine Errungenschaft der Nationalversammlung übernommen. Zugleich verweist der Verfasser jedoch auch auf die grundlegenden Unterschiede der Reichsverfassungen von 1849 und 1871.

Die Frage nach den Zukunftschancen der Reichsverfassung von 1849 beantwortet Engehausen eher skeptisch, betont jedoch zugleich ihr demokratisches Potential und die Möglichkeit der Grundlegung einer parlamentarischen Regierungsweise. Es bleibt allerdings die Frage, ob es sich bei den von der Nationalversammlung etablierten Verfahren tatsächlich um demokratische Prozesse und nicht vielmehr um parlamentarische Abläufe handelte. Engehausen räumt selbst ein, dass die Mehrheit der Abgeordneten demokratischen Zielen und politischen Parteien eher reserviert gegenüberstand. Allerdings kam auch die liberale Mehrheit der Abgeordneten der Nationalversammlung nicht umhin, das Prinzip der Volkssouveränität zu respektieren. Handelte es sich also bei der Nationalversammlung von 1848/49 um eine "Werkstatt" der Demokratie oder des Parlamentarismus? Das Buch bietet vielfältige Anregungen zur Erörterung dieser und vieler anderer Themen.

Das Buch bietet einen systematischen und kompakten Zugang zu zentralen Diskussionsgegenständen und Fragestellungen der Nationalversammlung von 1848/49 und regt zum Nachdenken über die aktuellen Diskussionen um Demokratiegeschichte an. Aufgrund seiner umfassenden Kenntnis der Geschichte der Revolution von 1848/49 bettet Engehausen die Parlamentsgeschichte überzeugend in den historischen Kontext ein und regt zu weiterer Lektüre an. Mit Hilfe zahlreicher zeitgenössischer Darstellungen und Erinnerungen von Abgeordneten der Nationalversammlung gelingt es ihm, die komplexen Sachverhalte anschaulich zu vermitteln. Bedauerlich ist lediglich die oft geringe Wiedergabe-Qualität der geschickt ausgewählten Abbildungen. Das Buch enthält im Anhang passenderweise einen Abdruck der Grundrechte der Reichsverfassung von 1849. Die Neuerscheinung ist ein gelungener Beitrag zum 175. Jubiläum der Revolution von 1848/49 und eine Würdigung der Leistungen der Frankfurter Nationalversammlung.


Anmerkung:

[1] Hervorzuheben sind noch immer das Werk von Manfred Botzenhart: Deutscher Parlamentarismus 1848-1850, Düsseldorf 1977, und das biographische Abgeordnetenhandbuch von Heinrich Best / Wilhelm Weege: Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998.

Michael Wettengel