Rezension über:

Rolf Sachsse (Hg.): Anna Atkins. Blue Prints, München: Klinkhardt & Biermann 2021, 72 S., 52 Farb-, 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-943616-81-1, EUR 16,00
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Rezension von:
Annette Tietenberg
Institut für Kunstwissenschaft, Hochschule für Bildende Künste, Braunschweig
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Annette Tietenberg: Rezension von: Rolf Sachsse (Hg.): Anna Atkins. Blue Prints, München: Klinkhardt & Biermann 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/37799.html


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Rolf Sachsse (Hg.): Anna Atkins

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Wer noch nicht von den Vorzügen der kleinen Form [1] überzeugt ist, sollte sich die Monographie "Anna Atkins. Blue Prints" näher anschauen. Gestaltet nach einer Idee der Grafikerin Marion Blomeyer und versehen mit luziden Texten des Fotografen, Fotohistorikers und Kurators Rolf Sachsse gelingt es dem schmalen Bildband im handlichen Format, der englischen Botanikerin und Illustratorin Anna Atkins (1799-1871) die verspätete Anerkennung zu verschaffen, die sie verdient hat. Mit Fotoreproduktionen von hoher Druckqualität und in plausibel strukturierten Kapiteln wird Anna Atkins außergewöhnliches Publikationsprojekt in einen mediengeschichtlichen, naturwissenschaftlichen und sozialen Kontext gestellt. Zwei Jahre bevor Henry Fox Talbots "The Pencil of Nature" (1844) erschien, fiel Anna Atkins auf, dass sich die Cyanotypie, die kameralose Fotografie, die seit 1842 vom Astronomen John Herschel experimentell erprobt wurde, hervorragend zur Veröffentlichung ihrer Pflanzenstudien eignete: Mit dem Heft "Photographs of British Algae: Cyanotype Impressions" brachte sie im Oktober 1843 das erste Fotobuch der Welt heraus.

Seit längerem schon hatte sie den Plan gefasst, ein Herbarium britischer Algen anzulegen, das der Systematik und Namensgebung des irischen Botanikers William Henry Harvey folgen sollte. Die Cyanotypie bot ihr die Möglichkeit, "nicht nur ein Exemplar ihres Herbariums herzustellen, sondern mehrere, zudem wesentlich preiswerter als in den bislang üblichen Druckverfahren" (24). Das zweite Konvolut ihrer blau-weißen Lichtbilder übersandte Anna Atkins samt Widmung an John Herschel. Handschriftlich vermerkte sie: "Die Schwierigkeit, präzise Zeichnungen von derart feingliedrigen Gegenständen wie Algen und Wasserfäden herzustellen, hat mich bewegt, Sir John Herschels eleganten Prozess der Cyanotypie dazu zu nutzen, um Selbstabbildungen der Pflanzen zu erhalten, die ich nun mit großem Vergnügen meinen Freunden der Botanik anbiete." (15). Das erste Heft schickte sie selbstbewusst an die Royal Society, das dritte an Henry Fox Talbot, das vierte an den Chemiker Robert Hunt und das fünfte an den Büchersammler Thomas Philipps. Weitere Exemplare gingen an das British Museum, die Linnean Society of London sowie an die Botanischen Gärten von London und Edinburgh.

Aufgewachsen als Tochter des Chemikers, Zoologen und Mineralogen John George Children, der von 1838 bis 1844 Vizepräsident der Botanical Society of London war, hielt es Anna Atkins für selbstverständlich, Teil einer scientific community zu sein, die dem Bauplan der Natur auf die Spur kommen wollte. Zudem war sie eine hervorragende Zeichnerin. So illustrierte sie in den 1820er Jahren die von ihrem Vater übersetzten Schriften Jean-Baptiste de Lamarcks über die Wirbellosen und fertigte zweihundert Zeichnungen von Muscheln an. Seit Erscheinen der "Systema Naturae" (1735) von Carl von Linné galt das Systematisieren und Benennen der Erscheinungen der Natur als zentrales Unterfangen der Aufklärung. In der späteren Zusammenarbeit Linnés mit dem Pflanzenmaler Georg Dionysius Ehret aber zeigte sich, dass es notwendig war, Pflanzen und Tiere nicht nur zu beschreiben und tabellarisch einzuordnen, sondern auch im Detail zu veranschaulichen. Die Qualität der Abbildungen verhalf zu wissenschaftlicher Einsicht, regte den akademischen Diskurs an und war nicht zuletzt entscheidendes Kriterium für den publikatorischen Erfolg. Eingebunden in koloniale Handelsreisen wurden daher seit Mitte des 18. Jahrhunderts Pflanzen aus der Ferne nach Europa verfrachtet, in grafische Darstellungen übersetzt und in Buch- und Mappenwerken publik gemacht.

Anna Atkins jedoch interessierte sich für die heimische Flora. Im Herbst 1842 und im Frühjahr 1843 probierte sie diverse Papiersorten und Spannrahmen aus. In Halstead Place, wo sie lebte, seitdem sie 1825 den wohlhabenden Unternehmer John Pelly Atkins geheiratet hatte, wurden die pleasure grounds vor dem Haus in ein Fotolabor im Grünen verwandelt. Dort breitete Atkins das Papier aus, das sie zuvor in einem dunklen Raum mit einer Lösung aus lichtempfindlichen Eisensalzen präpariert hatte. Auf diesem fotosensiblen Papier legte sie dann die vorbereiteten Algen aus, fixierte ihr Arrangement mit einer Glasscheibe und wartete, bis das sonnenbelichtete Trägermaterial nach fünf bis zehn Minuten eine gelblich-grüne Farbe angenommen hatte. Anschließend stellte sie sich barfuß in einen Bach, um das Fotopapier auszuwaschen, wobei dieses die typische Cyan-Farbe annahm. Je nach Bewegung und Wässerung konnten die Blautöne variieren. Nur dort, wo die Pflanzenpräparate gelegen hatten, blieb das Papier stets hell, wodurch sich als Negativform haarscharfe Umrisse, fasrige Blattränder und hauchdünne Äderchen der Pflanzen minuziös abzeichneten.

Jeder Lichtabdruck ist ein Unikat. Dadurch geriet die Cyanotypie gegenüber damaligen Druckverfahren, die bereits im industriellen Maßstab zahlreiche identische Kopien herstellen konnten, ins Hintertreffen. Doch Anna Atkins hielt unbeirrt am händischen Prozess fest. Anfangs stellte sie zwölf Lichtbilder pro Jahr und Heft her. Dann verlegte sie - ähnlich wie es später Andy Warhol bei seiner Siebdruck-Produktion in der Factory tun sollte - den Herstellungsprozess in das Produktionsfeld Gleichgesinnter. In einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft mit Anne Dixon, einer entfernten Verwandten der Schriftstellerin Jane Austen, entstanden rund dreitausend Cyanotypien. Gemeinsam brachten Atkins und Dixon - zeitweise in Kooperation mit Isabella Herschel - das Publikationsprojekt "British Algae" im Herbst 1853 tatsächlich zum Abschluss. "In zwei Lieferungen von je 72 und 98 Fotogrammen werden die mehr als ein Dutzend Empfänger der Atkins'schen Lieferungen bedient" (42). Die Hefte weisen Unterschiede auf - gelegentlich gibt es Doubletten - und sind daher so einzigartig wie die Lichtabdrücke selbst. Auch die Einbände differieren, denn erst nach der letzten Lieferung gaben die Besitzer ihre Cyanotypien zu einem Buchbinder, "der sie zwischen zwei starken Deckeln" (42) zusammenfasste. Weder die Lieferwege noch die Adressaten sind vollständig dokumentiert. Auch ist nicht bekannt, ob es sich bei den Sendungen stets um Geschenke oder mitunter auch um die Erfüllung von Subskriptionsverträgen handelte.

Herablassend wurde Atkins Publikationsform bis in die 1980er Jahre hinein als "ladies' work", als "das handgemachte Album einer Amateurin" und als "standesgemäßes Freizeitvergnügen einer begüterten Frau mit wissenschaftlichen Interessen" (7) belächelt. In den letzten Jahren rückten die Cyanotypien dann mehr und mehr in den Kontext der Kunst ein, denn die aus tiefer Bläue auftauchenden, poetisch anmutenden Gespinste werden als Nachbilder der spiritistischen Fotografie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts oder auch als Vorläufer surrealistischer Fotogramme rezipiert. Dabei haben fotogeschichtlich und kunstsoziologisch orientierte Forschungen von Larry J. Schaaf, Joshua Chuang, Carol Armstrong und Catherine de Zegher sowie Katharina Steidl eindeutig bewiesen, dass Anna Atkins Entscheidung, dem Zeichnen den fotografischen Selbstabdruck der Pflanzen vorzuziehen, dem Objektivitätsanspruch des 19. Jahrhunderts korrespondierte und als Meilenstein in der Geschichte wissenschaftlicher Illustrationen zu betrachten ist. [2] Rolf Sachsse stellt im Buch die These auf, dass die Botanik im 19. Jahrhundert "als Leitdisziplin für die Popularisierung der für die Industrialisierung notwendigen naturwissenschaftlichen Systematisierungsarbeit" (8) zu verstehen sei. Was aus heutiger Sicht wie die Suche nach der Blauen Blume der Romantik anmutet, wäre demnach als ein Bekenntnis zur mechanischen Reproduktion, zur Beherrschung der Natur und zur "Grundlage einer neuen Organisation von wissenschaftlicher Forschung und Lehre" (8) zu interpretieren. Es lohnt sich, diesen Überlegungen nachzugehen. Insofern ist das vorliegende Bekenntnis zur kleinen Form ebenso vielseitig und anregend wie Anna Atkins "British Algae": Es ist eine Augenweide und ein Lesegenuss, eine betörende Feier des Wunderwerks der Natur, der Wissenschaft, der Fotografie - und der Buchgestaltung.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Friedrich Balke / Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hgg.): Kleine Formen (= Archiv für Mediengeschichte 19), Berlin 2021.

[2] Larry J. Schaaf: Sun Gardens Victorian Photograms, New York 1985; Joshua Chuang / Larry J. Schaaf: Sun Gardens: The Cyanotypes of Anna Atkins, New York 2018; Carol Armstrong / Catherine de Zegher: Ocean Flowers: Impressions from Nature, Princeton 2004; Katharina Steidl: Am Rande der Fotografie. Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin / Boston 2019.

Annette Tietenberg