Rezension über:

Volker Henn: Die Hanse - Einheit in der Vielheit?, Trier: Verlag für Geschichte und Kultur 2022, 161 S., ISBN 978-3-945768-29-7, EUR 24,90
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Rezension von:
Oliver Auge
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Auge: Rezension von: Volker Henn: Die Hanse - Einheit in der Vielheit?, Trier: Verlag für Geschichte und Kultur 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/37978.html


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Volker Henn: Die Hanse - Einheit in der Vielheit?

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Volker Henn gehört zu Deutschlands profiliertesten Hanseforschern. Aus seiner Tastatur gingen zahlreiche grundlegende Veröffentlichungen zur Hansegeschichte hervor, die den Diskurs immer wieder beförderten und nach wie vor befruchten. Noch im hohen Alter stellt die Hanse für ihn "ein faszinierendes und unerschöpfliches Forschungsfeld" (9) dar. Als Beleg für diesen wissenschaftlichen Enthusiasmus kann seine neue, 2022 veröffentlichte Aufsatzsammlung dienen, die es im Folgenden zu besprechen gilt. Es handelt sich dabei um einen schmalen Sammelband mit fünf Aufsätzen, die zum größeren Teil bereits an anderer Stelle veröffentlicht und in einem Fall bislang lediglich als Vortrag präsentiert wurden. Wie Henn im Vorwort (9f.) weiter angibt, sind die Beiträge für diese Publikation nochmals überarbeitet und aktualisiert worden.

Das Aufsatzquintett beginnt mit dem erstmalig 1998 publizierten und dann in überarbeiteter Variante nochmals 2007 veröffentlichten Beitrag, der dem ganzen Band seinen Titel verleiht: "Die Hanse - Einheit in der Vielheit?" (13-46). Henn legt darin die Anfänge der Hanse dar, die zwischen dem Wiederaufbau Lübecks und der Mitte des 14. Jahrhunderts "in einem lange andauernden Prozess allmählich" (16) ihre heute immer noch schwer konturierbare Gestalt annahm - eben "mehr Vielheit als Einheit" (28). Henn äußert sich weiter zu Mitgliedern und Kontoren, betont, dass die Hanse "nie gegründet" (21) wurde und auch kein Städtebund war, geht auf die allgemeine Tagfahrt ein, die als höchstes Leitungs- und Entscheidungsgremium der Hanse fungierte. Eine gesamthansische Willensbildung sei immer problematisch geblieben. Um die institutionelle Schwäche, derer man sich durchaus bewusst war, zu beheben, habe man über die sog. Tohopesaten, letztlich "nichts anderes als größer dimensionierte Städtebünde oder Landfriedensbündnisse" (27), festere Zusammenschlüsse der Städte zu erwirken versucht. Zum Schluss betont Henn, dass seinen Überlegungen ein Hansebild zugrunde liege, "welches das Phänomen 'Hanse' nicht travezentrisch von Lübeck 'nach unten', d.h. in die Regionen denkt, sondern die Hanse von den Städten und Regionen her begreift [...]" (29). Ganz in diesem Sinn stellt der Verfasser in einem folgenden Exkurs die schwierige Frage, welche Städte denn überhaupt zur Hanse gehörten. Die Zahlen, auf die man in Quellen und Literatur trifft, reichen von 35 bis "etwa 200" (34). Henn ist skeptisch, was die hohen Zahlen anbelangt. Stattdessen sei es mit den vielen kleinen und kleinsten Städten als Hansemitgliedern "nicht weit her" gewesen (44).

Dezidiert mit der "Entstehung der Hanse" - letztmals 2010 publiziert - setzt sich Henn dann im folgenden Beitrag auseinander (49-64). Er beschreibt die Genese der Hanse, bis "die beiden einzigen dauerhaften Organe" derselben (64), die Kontore im Ausland und die gesamthansische Tagfahrt, voll ausgebildet waren.

Im Anschluss geht es um die "Integration des niederrheinisch-ostniederländischen Raumes in die Hanse", welcher Beitrag bereits 1994 bzw. 2005 publiziert wurde (67-87). Der ganze Aufsatz nutzt das gründlich recherchierte hansische Regionalbeispiel als glühendes Plädoyer für eine regionalisierte Perspektive der Hanseforschung. Denn die Hanse sei in ihrer Handlungsfähigkeit auf "die Zustimmung und die Unterstützung durch die einzelnen Regionen resp. Städte in den jeweiligen Regionen angewiesen" gewesen (67). Nochmals wehrt sich Henn folgerichtig gegen den "Travezentrismus" gängiger Hansebetrachtung: "Zugrunde liegt die Idee einer hansischen Geschichte, welche die Eigenständigkeit der Teilräume mit ihrem gegebenenfalls schon in vorhansische Zeit zurückreichenden wirtschaftlichen Gepräge [...] ernst nimmt und als konstitutives Element der hansischen Geschichte begreift, so dass das traditionelle 'travezentrische' Hansebild, das dazu neigt, Lübeck und die übrigen wendischen Städte mit der Hanse gleichzusetzen und deren Interessen als die eigentlich hansischen zu verstehen [...], zu ergänzen wäre durch ein von den hansischen Teilräumen her entwickeltes Verständnis des Phänomens 'Hanse' [...]" (69). Am Beispiel der süderseeischen Städte verfolgt Henn in dieser Linie deren kommunikative Beziehungen und regionale Bindungen nach und verdeutlicht "das Nebeneinander von regionaler Eigenständigkeit und gesamthansischer Verantwortung" (82).

Wieder zur zentralen Frage, "welche Städte überhaupt Mitglieder der Hanse waren" (89), leistet Henns Bestandsaufnahme zu den "kleinen westfälischen 'Hansestädten unter Soest'", erstmals 2014 veröffentlicht, ihren gewissen Beitrag (89-115). Nochmals offeriert der Autor darin die von der Forschung diskutierten Mitgliederzahlen und weist den Ansatz zurück, es habe eine gestufte Zugehörigkeit zur Hanse ("wirklich"/"vollberechtigt"- "mittelbar"/"minderberechtigt"/ "zugewandt") bzw. von "Hansestädten" versus "hansischen Städten" gegeben. Am Beispiel der sieben Soester "Beistädte" Lippstadt, Arnsberg, Attendorn, Rüthen, Werl, Geseke sowie Brilon kann Henn vielmehr herausarbeiten, dass diese kleinen Kommunen im Wirtschaftsleben der Hanse keine Rolle spielten und auch von den Zeitgenossen nicht als Hansestädte wahrgenommen wurden, dass sie vielmehr das Etikett "Hanse" nur erhielten, um anschließend "zur Kasse gebeten" werden zu können (110). Es handelte sich um eine "Fiktion der Mitgliedschaft", wie Henn schreibt (ebd.). In einem nachträglich hinzugefügten Postscriptum liefert Henn noch einen umfassenden Verriss zu einer thematisch relevanten Keynote von Carsten Jahnke [1] (111-114) und ein gewichtiges Statement zum Nachwuchsworkshop des Hansischen Geschichtsvereins, der 2018 zu "kleinen Städten" in Stendal veranstaltet wurde. Nochmals unterstreicht Henn darin die Kernthese seines Aufsatzes (114f.).

Zu guter Letzt äußert sich Henn prononciert zur "deutsche(n) Hanse in europäischer Perspektive", wobei es sich um die endlich verschriftlichte Fassung eines Vortrags von 2010 handelt (117-135). Erneut ist die Genese der Hanse und ihr Wesen zwischen Einheit und Vielheit sein Thema. Die europaweit aktiven Hansekaufleute hätten sich als deutsche Kaufleute betrachtet, was sich aber auf "dudesch" als die den Kaufleuten gemeinsame lingua franca Mittelniederdeutsch bezog und nicht auf nationalstaatliche Ideen. Die Hanse könne nicht plakativ als "Wegbereiterin, Vorläuferin oder gar als Präfiguration der Europäischen Union" (134) betrachtet werden. "(D)ie Hansestädte hätten sich nie darauf eingelassen, Beschränkungen ihrer Eigenständigkeit hinzunehmen, oder sich zu verpflichten, für die Schulden anderer aufzukommen" (135) - womit sich freilich einzelne EU-Mitgliedsstaaten ebenfalls schwertun. Die Hanseforschung solle sich jedenfalls davor hüten, wie in der Vergangenheit dem Zeitgeist zu erliegen und ihre Betrachtung "in den Dienst politischer Gegenwartsforderungen" (ebd.) zu stellen.

Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis rundet den verständlich geschriebenen und übersichtlich gestalteten Sammelband fast fehlerfrei ab - es stört lediglich das warum auch immer kleiner formatierte "Ders." in der Mitte der Seite 142 (137-161).

Mehrfache inhaltliche Wiederholungen bleiben bei der Lektüre der Beiträge nicht aus, wie man rasch erkennt. Immer wieder geht es - leider in teilweise annähernd gleichen Formulierungen - um die Rolle der Regionen in der Hanse, um die Bestimmung ihrer Mitgliederstärke, um deren Genese und offene Gestalt bis um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Für einen Teil der Leser wirken die gebetsmühlenartig vorgetragenen Doppelungen sicher störend, für den anderen werden sie hilfreich sein, um das Werden und Wesen der Hanse zwischen Einheit und Vielheit endlich besser zu begreifen. Der Rezensent begrüßt in jedem Fall Henns prononciertes Plädoyer für eine regionalhistorische Annäherung an die Hansegeschichte, auch wenn es für ihn natürlich bedauerlich ist, dass Henn trotz der erkennbar akribischen Aktualisierung seiner Literaturliste gerade das jüngere Kieler Plädoyer zur regionalgeschichtlichen Perspektivierung der Hansegeschichte in seinem Band nahezu komplett ignoriert hat. [2]


Anmerkungen:

[1] Carsten Jahnke: Hansisch oder nicht-hansisch? Die kleinen und großen Hansestädte, in: Juhan Kreem/Jürgen Sarnowsky (Hgg.): "Hansisch" oder "nicht-hansisch" - das Beispiel der kleinen Städte und Livlands in der Hanse (Hansische Studien, Bd. 27), Wismar 2019, 1-22.

[2] Siehe dazu etwa Oliver Auge (Hg.), Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012 (Kieler Werkstücke, Reihe A, Bd. 37), Frankfurt a.M. 2014 (lediglich der - dezidiert nicht regionalhistorisch ausgerichtete - Beitrag von Ulla Kypta scheint ihm daraus zitabel zu sein); Ders.: Die Hanse in der Region und Regionalgeschichte, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 37 (2019), 37-56 u.v.m.

Oliver Auge