Hélène Leclerc: Lenka Reinerová und die Zeitschrift "Im Herzen Europas". Internationale Kulturbeziehungen während des Prager Frühlings, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 393 S., ISBN 978-3-412-52538-5, EUR 65,00
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Der Fokus der von Hélène Leclerc verfassten Monografie, die auf ihrer Toulouser Habilitationsschrift von 2019 beruht, liegt auf der bisher unerforschten tschechoslowakischen Zeitschrift Im Herzen Europas, die 1958-1971 erschien und einem deutschsprachigen Publikum im Westen die kommunistische Tschechoslowakei als touristisches Ziel propagieren und zugleich die deutsch-tschechischen und österreichisch-tschechischen Beziehungen stärken sollte (ab 1961 erschien eine speziell für Österreich bestimmte Variante namens Wir und Sie im Herzen Europas). Über den gesamten Zeitraum ihres Bestehens hinweg versuchten die für die Zeitschrift Verantwortlichen Kontakte mit dem Westen zu knüpfen, um den Mangel an diplomatischen Beziehungen zu kompensieren. Darauf weist schon ihr Titel hin, der die Ausnahmestellung der Tschechoslowakei im kommunistischen Ostblock hervorhob - als ein Land in der Mitte Europas, das viel mit anderen deutschsprachigen europäischen Ländern gemein habe. Die Zeitschrift befasste sich mit Politik, Geschichte, Literatur, Philosophie, Wissenschaften, Theater, Film, bildenden Künsten, Fotografie und Sport. Sie war reich illustriert und mit Fotos und Collagen von berühmten tschechoslowakischen Künstlern versehen. Sie präsentierte die Tschechoslowakei als ein fortschrittliches Land mit reichem Kulturerbe.
Leclerc stellt sich in ihrer Abhandlung vier Aufgaben: die Nachzeichnung der Geschichte der Zeitschrift Im Herzen Europas; die Untersuchung ihrer Funktion als Instrument der tschechoslowakisch-deutschen und tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen; die Einordnung der Zeitschrift in die Geschichte des Prager Frühlings und schließlich die Analyse der Rolle Lenka Reinerovás in der Zeitschrift. Reinerová war stellvertretende Chefredakteurin (1958-1968), dann Chefredakteurin (Oktober 1968-1970), verfasste für die Zeitschrift etliche Artikel zu politischen und kulturellen Themen und übersetzte Auszüge tschechischer literarischer Werke ins Deutsche.
Die Monografie schließt in zweierlei Hinsicht eine Forschungslücke. Einerseits werden die Entwicklung und der Charakter der Zeitschrift Im Herzen Europas analysiert, deren Status und Stellung in der kommunistischen Ära der Tschechoslowakei bisher nur ansatzweise erforscht wurden. Leclerc weist nach, dass die Zeitschrift die Entwicklung des Regimes in der Tschechoslowakei widerspiegelt. Die Mitglieder der Redaktion begeisterten sich in den 1960er Jahren für die Idee einer Reform des Kommunismus in einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". In der Zeit der Normalisierung diente die Zeitschrift in erster Linie dem Lob des Kommunismus und die Chefredakteure wurden entlassen (Gustav Solar im Oktober 1968 und Lenka Reinerová, als Solars Nachfolgerin, 1970). Das Periodikum wurde schließlich umbenannt und hieß seit 1972 Tschechoslowakisches Leben.
Andererseits wird ein in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher unberücksichtigtes Kapitel im Leben und Schaffen Reinerovás analysiert, an das sie selbst weder in ihren autobiografisch geprägten belletristischen Texten noch in etlichen mit ihr geführten Interviews in Printmedien, Rundfunk und Fernsehen ausführlich erinnert hat. Im Gegensatz zu ihren übrigen Lebensabschnitten - Prag in den 1930er Jahren, Holocaust, Exil in Frankreich, Marokko und Mexiko sowie der Weg zurück in die Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre Verhaftung in den 1950er Jahren im Rahmen der stalinistischen Säuberungen - ist Reinerová auf ihre journalistische Tätigkeit für Im Herzen Europas nur sporadisch eingegangen. Leclercs Monografie liefert somit einen wichtigen Beitrag zur Biografie Reinerovás und knüpft sozusagen an die Monografie des Historikers Ondřej Vojtěchovský an, der die von Reinerová völlig tabuisierte Lebensphase von 1949 bis 1951 näher beleuchtet, während der Reinerová als überzeugte Kommunistin Mitglied der antititoistischen jugoslawischen politischen Emigration in Prag war.[1] Zugleich wird durch die thematische und stilistische Untersuchung von Reinerovás Artikeln auf die Zusammenhänge zwischen ihrer journalistischen und literarischen Tätigkeit hingewiesen und somit ein Beitrag zu Reinerovás Poetologie und der Entwicklung ihres schriftstellerischen Schaffens geliefert.
Die von Leclerc aufgestellten Thesen werden durch zahlreiche Belege aus der Zeitschrift gestützt sowie durch Recherchen vor allem in den Nachlässen Reinerovás im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin und im Literaturarchiv Památník národního písemnictví (Denkmal der nationalen Literatur) in Prag untermauert. Die Entwicklung der Zeitschrift wird in den historischen Kontext eingeordnet, sodass der Leser einen anschaulichen Gesamtüberblick über die Geschichte von Im Herzen Europas und über die Tätigkeit Reinerovás für diese Zeitschrift gewinnt.
Anmerkung:
[1] Ondřej Vojtěchovský:Z Prahy proti Titovi. Jugoslávská prosovětská emigrace v Československu [Aus Prag gegen Tito. Die jugoslawische prosowjetische Emigration in der Tschechoslowakei], Praha 2012.
Markéta Balcarová