Rezension über:

Jenifer Neils / Dylan K. Rogers (eds.): The Cambridge Companion to Ancient Athens (= Cambridge Companions to the Ancient World), Cambridge: Cambridge University Press 2021, X + 494 S., zahlr. Kt., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-1-108-72330-5, GBP 29,99
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Rezension von:
Marion Meyer
Institut für Klassische Archäologie, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Marion Meyer: Rezension von: Jenifer Neils / Dylan K. Rogers (eds.): The Cambridge Companion to Ancient Athens, Cambridge: Cambridge University Press 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/36097.html


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Jenifer Neils / Dylan K. Rogers (eds.): The Cambridge Companion to Ancient Athens

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Dieses fast 500 Seiten starke Paperback enthält 33 Beiträge internationaler Autor:innen, gebündelt in sechs Themenkomplexen. Der Ansatz ist dezidiert sozialanthropologisch. Dies ist kein Führer zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt; im Fokus stehen das Leben und die Lebenswelt der Athener. Die Beiträge kommen mit wenigen Anmerkungen aus, bieten aber jeweils eine kommentierte Empfehlung für "Further Reading" und eine Bibliographie.

"The Urban Fabric" ist der größte Themenkomplex (Part I). Behandelt werden siedlungsgeographische und historische Fragen (City and Countryside, Fachard; The Emergence of the Polis, Papadopoulos) und die Funktionseinheiten der Stadt: Streets Walls, and Gates (Costaki und Theocharaki), Akropolis (Valavanis), Agora (Camp), Archaic and Classical Cemeteries (Shea) und Housing and the Household (Harrington), ferner: Inscriptions (Meyer) und Water and Water Management (Stroszeck). Valavanis berücksichtigt in seinem Überblick über die Nutzung der Akropolis bis in klassische Zeit auch die Divergenz der Forschungsmeinungen, folgt dann aber meist T.L. Shear, Trophies of Victory (2016). Shea behandelt die Entwicklung der Grabmonumente und betont, dass auch in klassischer Zeit nicht jedes Familienmitglied mit einem Monument oder einer Namensinschrift verewigt wurde. Das ist richtig; eine der Innovationen des attischen Grabreliefs der klassischen Zeit bestand aber darin, dass jedes Mitglied dargestellt sein oder ein eigenes Relief bekommen konnte! Meyer fragt nach den Intentionen und der Rezeption von Steininschriften und argumentiert überzeugend für den Votivcharakter der von Beamten aufgestellten Inschriften in Heiligtümern.

Part II "Inhabitants" enthält mit Kelloggs Kapitel Population and Social Structure einen der aufschlussreichsten Beiträge (mit Erläuterung der Grundlagen für quantitative Angaben). Die Wahrnehmung der in der Polis anfallenden Aufgaben erforderte im 5. Jh. ca. 60.000 Bürger, was auf eine Bevölkerung von 300.000 bis 400.000 Personen schließen lässt (mit einem Sklavenanteil von etwa 15-35 %). Performative Aspekte des öffentlichen Lebens erlaubten eine gewisse soziale Mobilität. Mit Liston (Death and Disease) kommt eine Anthropologin zu Wort, die sich mit negativen Auswirkungen auf die Lebenserwartung befasst. Weitere Beiträge behandeln die Familie (Patterson) und die Haus-, Nutz- und Wildtiere (Smith).

In Part III sind Beiträge zu "Business/Commerce" zusammengestellt: Labor and Employment (Lewis), The Archaeology of Markets and Trade (Lawall), ein Kapitel zum Piräus (Steinhauer) sowie weitere zur Münzprägung (Kroll), der Keramikproduktion (Rotroff) und Sculpture and Its Role in the City (Palagia). Lewis zufolge lebte nur etwa die Hälfte der Bevölkerung von Landwirtschaft. Essentiell waren das Handwerk (Keramikproduktion, Metall-, Stein-, Holz- und Lederverarbeitung, Duftölproduktion) und der Handel.

Part IV "Culture and Sport" spricht außer Athletics, Democracy, and War (Pritchard) auch Themen der Geistesgeschichte (The Philosophical Schools, Bakewell) sowie des Kultes (Theatrical Spaces, Di Napoli; Athenian Festivals, Neils und Miles konzentrieren sich auf die Eleusinischen Mysterien und die Panathenäen) und des Alltags an (Eating and Drinking, Steiner; Sex and the City, Ormand). Pritchard sieht in der Popularität des Athletentums - als einer Aktivität der Elite - auch in der Demokratie ein Paradox, das er damit erklärt, dass Sport eng mit der Kriegsführung verbunden wurde. Da die Masse der Athener nicht als Hopliten, sondern als Ruderer ihren Kriegsdienst versah, überzeugt dies nicht.

"Politics" (Part V) enthält Kapitel zu Associations (Kierstead), Rule of Law and Lawcourts (Harris) und Armed Forces (Pritchard). Harris' Beitrag gehört zu den Highlights des Bandes. Er erläutert die Praktiken des athenischen Gerichtswesens und arbeitet die Grundsätze für Rechtsstaatlichkeit heraus, wie sie für die Antike und die Neuzeit gelten.

Vier Beiträge widmen sich der "Reception". Rogers (Roman Athens) arbeitet heraus, welche Auswirkungen die Präsenz von Fremden seit dem 1. Jh. v.Chr., auf den Charakter der Stadt und das Selbstverständnis ihrer Bewohner:innen hatte. Weitere Beiträge widmen sich Early Travelers and the Rediscovery of Athens (Pitts) und Modern Athens and Its Relationship with the Past (Bridges). Costaki (Urban Archaeology: Uncovering the Ancient City) berichtet über die Grabungstätigkeiten, insbesondere die Bedingungen und die Erträge der Rettungsgrabungen.

Die Beiträge wurden von ausgewiesenen Expert:innen verfasst und beeindrucken durch ihre wissenschaftliche Qualität und anschauliche Darstellung. Es ist fraglos eine Stärke des Bandes, alle Quellengattungen für Aussagen über ein möglichst breites Spektrum von Aspekten des öffentlichen und privaten Lebens zu nutzen. Aber hätte man mit einer etwas anderen Gewichtung nicht deutlicher herausstellen können, was gerade für Athen spezifisch ist? War die einzigartige Bilderwelt Athens, mit ihren mythischen und lebensweltlichen Themen im öffentlichen und privaten Raum omnipräsent, für die Athener:innen nicht ebenso relevant wie manches der in den Beiträgen behandelten Phänomene? (Die bemerkenswerte Ikonographie der Grabreliefs klassischer Zeit, mit Darstellungen von Verstorbenen und Hinterbliebenen in einem dialogischen Verhältnis und Inklusion aller Altersgruppen und Geschlechter, wird nur kursorisch erwähnt.) Man vermisst einen Themenkomplex "Kult und Mythos" zu Kultpraktiken (und der Partizipation der Athenerinnen am öffentlichen Leben), den zahlreichen Kultstätten und Festen sowie den lokalen identitätsstiftenden Mythen und ihren Protagonist:innen (in den die Kapitel zu Theatrical Spaces und Athenian Festivals bestens gepasst hätten).

Die Beiträge sind gut verständlich abgefasst, Fachbegriffe werden erläutert, antike Personen und Orte kurz charakterisiert. Damit wendet sich der Band auch an ein breiteres Publikum - jedoch anscheinend vor allem an ein einsprachig anglophones, wenn man von den Bibliographien ausgeht. Wäre, bei dem hohen wissenschaftlichen Niveau des Bandes, nicht auch das Interesse von Fachkolleg:innen zu berücksichtigen (und Studierenden zu zeigen, dass die Erforschung des antiken Athen ein internationales Bemühen ist)?

Es dürfte keine Publikation geben, die nichts zu wünschen übrigließe. Daher sei betont: Die hier besprochene ist überaus informativ, gehaltvoll und anregend. Sie präsentiert Ergebnisse (und Diskussionen) langjähriger Forschungsarbeit prägnant, ist von aktuellen Fragestellungen und Forschungsinteressen geprägt und bietet Blicke auf das antike Athen, wie sie noch nie in einer einzigen Publikation zu finden waren. Die Kompetenz der Autor:innen ist beeindruckend. Der Band wird zum unverzichtbaren Handbuch für alle am antiken Athen Interessierten werden.

Marion Meyer