Rezension über:

Oliver von Wrochem (Hg.): Deportationen dokumentieren und ausstellen. Neue Konzepte der Visualisierung von Shoah und Porajmos (= Reihe Neuengammer Kolloquien; Bd. 8), Berlin: Metropol 2022, 353 S., ISBN 978-3-86331-653-2, EUR 24,00
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Rezension von:
Andrea Löw
Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Löw: Rezension von: Oliver von Wrochem (Hg.): Deportationen dokumentieren und ausstellen. Neue Konzepte der Visualisierung von Shoah und Porajmos, Berlin: Metropol 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37685.html


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Oliver von Wrochem (Hg.): Deportationen dokumentieren und ausstellen

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Wie können wir von der Shoah und dem Porajmos so erzählen, dass eine breitere Öffentlichkeit beginnt, sich für diese Geschichten von Ausgrenzung und Verfolgung und am Ende von Massenmord zu interessieren? Für das Thema der Deportationen fragen dies die Autoren des vorliegenden Sammelbands, den Oliver von Wrochem im Auftrag der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte herausgegeben hat, wo gerade ein Museum zu den Deportationen aus Hamburg entwickelt wird. Im Zusammenhang damit ist bereits eine Wanderausstellung zu den Deportationen nach Riga entstanden [1].

Vorgestellt werden im Sammelband spannende und wichtige Ausstellungsprojekte, aber auch etwa Seminare und Exkursionen mit thematischem Bezug zu den Deportationen. Warum gerade dieses Thema so gut geeignet ist, sehr konkrete historische Bildungsarbeit zu leisten, verdeutlicht etwa Gottfried Kössler in seinem Beitrag über die Deportationen aus Frankfurt am Main und die Errichtung der dortigen "Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle". Er schreibt: "Das Thema Deportationen verknüpft die Orte des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden mit den Städten, aus denen die als Juden Verfolgten deportiert wurden. Sobald die Ereignisse der Deportationen genau erzählt werden, ist der Bezug zum eigenen Lebensumfeld konkret" (156). Genau dies ist eine der großen Chancen, wenn wir heute von diesen Deportationen, ihrer Vorgeschichte und Organisation ganz konkret erzählen und so eine Geschichte aus dem direkten Lebensumfeld junger Menschen mit dem im besetzten Osteuropa durchgeführten Massenmord verknüpfen [2].

Wie aktuell und wenig "abgeschlossen" diese Themen heute noch sind, zeigt die Debatte um das für Hamburg geplante Projekt "denk.mal Hannoverscher Bahnhof", das kurz vor der Fertigstellung 2021 den Standort wechseln musste, da ein historisch belastetes Unternehmen mit in die Räumlichkeiten einziehen sollte, was besonders Verbände ehemals Verfolgter und ihrer Angehöriger als unzumutbar empfanden. Nun wird das Dokumentationszentrum bis 2026 an einem Standort in der Nähe entwickelt. Oliver von Wrochem betont: "Die Diskussion um die Vermietung eines privaten Investors an eine an NS-Verbrechen beteiligte Firma macht deutlich, wie nahe Vergangenheit und Gegenwart auch über 80 Jahre nach dem Beginn der Deportationen vom Hannoverschen Bahnhof beieinanderliegen. Die Verbrechen waren damals allgegenwärtig und fanden inmitten der Gesellschaft statt - unter Beteiligung großer Teile der Bevölkerung, und, wie das Beispiel Wintershall Dea zeigt, eben auch von Wirtschaftsbetrieben" (28).

Gerade diese Fragen nach Reaktionen wie Mitwirkung, Profitgier, Spott und Häme oder aber die seltene Unterstützung der Verfolgten angesichts der häufig vor aller Augen stattfindenden Deportationen sind von großer Aktualität und pädagogischer Bedeutung, wie viele der Beiträge in diesem Sammelband verdeutlichen. Die Frage darf gestellt werden: Wie hätte ich mich verhalten, wenn meine Nachbarn aus ihrer Wohnung abgeholt, zuvor beraubt und dann an einen ungewissen Ort verschleppt worden wären? Mit Gewissensentscheidungen wie diesen sind wir beziehungsweise sind diese Ausstellungen und Projekte sehr schnell bei "der Frage nach der eigenen Verantwortung für heutige politische Entscheidungen und Vorgänge" (175). Das Thema Handlungsspielräume und eigenes Verhalten wird auch sehr konkret im Beitrag von Johanna Schmied und Stefan Wilbricht, die für die im Entstehen begriffene Hamburger Ausstellung die sich ändernden Nachbarschaftsverhältnisse und das Verhalten der jeweiligen Nachbarn anhand eines einzigen Hauses in Hamburg rekonstruiert haben.

Die Beiträge des Bandes geben spannende Einblicke in die Geschichte der Deportationen von Jüdinnen und Juden, aber auch von Sintize und Sinto sowie Romnja und Roma, die komplizierten Phasen des Gedenkens daran an verschiedenen Orten in Deutschland, Österreich und Belgien sowie aktuelle Projekte des Erinnerns, Dokumentierens, Lehrens sowie Ausstellungskonzepte. So stellt Joachim Schröder den Erinnerungsort Alter Schlachthof in Düsseldorf vor. In diesem damals weiterhin genutzten Schlachthof mussten die Menschen unter furchtbaren Bedingungen, im Gestank nach Blut und Kot, auf ihre Deportation warten. Auf dem Areal gibt es inzwischen eine Hochschule, die den Erinnerungsort betreibt und ihm zugleich nicht zu großen Raum einräumen möchte, wie Schröder beschreibt. So geht es wie ja auch an all den anderen Orten immer wieder um die Frage: "Wie weit darf die Erinnerung an die NS-Verbrechen unseren Alltag beeinflussen bzw. ihn 'stören'" (80)? Mit unmittelbarem Bezug zu den Deportationen aus Hamburg stellt Cornelia Shati-Geissler das große Internetprojekt von Yad Vashem "Zugfahrten in den Untergang. Datenbank zu den Deportationen im Rahmen der Shoah (Holocaust)" eindrucksvoll am Beispiel der im Herbst 1941 aus Hamburg in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) deportierten Lucille Eichengreen vor.

Die Dokumentation eines von Sarah Grandke moderierten Podiumsgesprächs mit Aliaksandr Dalhouski, Ilya Lensky, Frank Reuter und Jana Šplíchalová gibt interessante Einblicke in die Arbeit und Dokumentation an den Zielorten der Deportationen und die jeweiligen Erinnerungskulturen in Lettland, Belarus und Tschechien. Diesen auf Europa geweiteten Blick nimmt auch Ljiljana Radonić in ihrem als "Ausblick" gekennzeichneten letzten Beitrag des in weiten Stücken sehr lesenswerten Sammelbandes ein, in dem sie Fallstricke und Möglichkeiten der Dokumentation und Ausstellung von Verfolgung und Deportation in Europa diskutiert. Sie warnt vor der Gefahr, sich auf den aus guten Gründen so zentralen individualisierenden Zugang zu beschränken: "So erlaubt der Fokus auf die Opfer etwa die Ausblendung der schwierigen Fragen nach der (Mit-)Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft für die Verbrechen" (322). Und auch hier zeigt sich die ungeheure Aktualität der in diesem Band diskutierten Fragen. Sehr zu Recht stellt die Autorin mit Blick auf die Kooperation lokaler Bevölkerungsgruppen in verschiedenen europäischen Ländern nämlich fest: "Würden wir diese Kollaboration [...] unerwähnt lassen, täten wir all jenen keinen Gefallen, die in den betreffenden Ländern teils verzweifelt für eine selbstkritische Aufarbeitung kämpfen" (324). Dieser Befund ist, blickt man auf den erinnerungspolitischen Umgang mit den Forschungen zum Holocaust und den vielfältigen Reaktionen lokaler Gesellschaften in Europa darauf, sehr richtig.


Anmerkungen:

[1] Oliver von Wrochem (Hg.): Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland, Berlin 2022.

[2] Die Autorin hat gerade ein Manuskript zu diesen Deportationen abgeschlossen, das Buch erscheint im Frühjahr 2024 bei S. Fischer: Andrea Löw, Deportiert. Über Leben und Sterben deutscher Juden im "Osten", Frankfurt 2024.

Andrea Löw