Rezension über:

Ninon Dubourg: Disabled Clerics in the Late Middle Ages. Un/suitable for Divine Service? (= Premodern Health, Disease, and Disability), Amsterdam: Amsterdam University Press 2023, 293 S., ISBN 978-9-4637-2156-1, EUR 133,00
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Rezension von:
Andreas Kistner
Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kistner: Rezension von: Ninon Dubourg: Disabled Clerics in the Late Middle Ages. Un/suitable for Divine Service?, Amsterdam: Amsterdam University Press 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 12 [15.12.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/12/37847.html


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Ninon Dubourg: Disabled Clerics in the Late Middle Ages

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Gegenstand des vorliegenden Bandes sind behinderte Geistliche in ihrer Auseinandersetzung mit dem Kurienapparat, genauer: mit der Kanzlei. Gemäß dem Untertitel der Untersuchung stand für Behinderte die Frage im Raum, ob sie für den Dienst in der Kirche geeignet sind oder nicht. Der chronologische Rahmen reicht vom 11. Jahrhundert bis zum Tod Gregors XI. (1378): Die gewissermaßen 'klassische' kanonistische Literatur und die Verfügbarkeit von Kanzleiregistern führen zu diesen chronologischen Schranken (leider bleiben so einschlägig 'Verdächtige' des Frühmittelalters wie Notker der Stammler oder Hermann der Lahme auf der Strecke).

Bei der Annäherung an den Inhalt fällt auf: Sie sind alle da, alle Begriffe, die derzeit Rang und Namen haben. Wir finden also Agency, Rasse, Gender, Kapitalismus, Identität, Ableismus, Intersektionalität, Poststrukturalismus, den Globalen Norden. 

Die Arbeit geht von zwei Prämissen aus. Dubourg fasst den beeinträchtigten ("impaired") Körper als Produkt und Ziel sozialer Ängste auf. Entsprechend schlage sich in der päpstlichen Korrespondenz die Angst der mittelalterlichen Gesellschaft vor Beeinträchtigung nieder. Darüber hinaus erlaube es die päpstliche Korrespondenz, kirchliche Haltungen gegenüber 'Anormalität' zu erkennen, was die Basis für das mittelalterliche Verständnis von Behinderung im Allgemeinen sei (18-19). Die so gewonnenen Erkenntnisse sollen dazu genutzt werden, die Konzeptualisierung der Kategorien auszuweiten. Die Bewertung der Kanzlei führe dazu, dass aus einer Beeinträchtigung (impairment) eine Behinderung werde (19).

In der Folge werden nur wenige Phänomene oder Beispiele herausgegriffen, die um eine Vielzahl von Anmerkungen und Beispielen erweitert werden könnten.

Mit Blick auf die angeführte Literatur zur Kurialverwaltung ist festzuhalten, dass eine Vielzahl deutscher und französischer Autoren im Literaturverzeichnis fehlt. Kurios etwa, wenn Kerstin Hitzblecks einschlägige Studien nicht zitiert werden [1] oder zu Kanzleiregeln nur die alte Publikation von Tangl, nicht aber Andreas Meyer herangezogen wird. Komplexe Sachverhalte werden häufiger mit einer randständigen Erwähnung in einer anderweitig fokussierten Arbeit belegt. Quellen werden häufig nach vollkommen veralteten Editionen zitiert (bei Innocenz III. Migne statt Hageneder und Sommerlechner; beim Lateranum IV Acta conciliorum von 1714). Die Angabe von Quellen im Verzeichnis erfolgt teils sehr verkürzt (Sentenzen mit Herausgeber, aber ohne Petrus Lombardus).

Leser mit größerem Lektürepensum zur Kirchengeschichte wundern sich über manche neue Akzentuierung, was Kontexte vor dem eigentlichen Berichtszeitraum betrifft (155). Beim Thema der Resignation fallen entscheidende Schlagworte, wie etwa 'Konsistorialpfründe' nicht, was andeutet, dass zentrale Aspekte der spätmittelalterlichen Rekrutierung nicht völlig durchdrungen sind.

Man wundert sich, was mitunter unter Rhetorik verstanden wird. So behauptet der Autor, dass die Bittsteller "gekonnt rhetorische Mittel einsetzten" (85). Bis das Kapitel ca. sechs Seiten weiter abgeschlossen wird, findet sich freilich keinerlei Erörterung der Rhetorik; auf die aus dem Sachvortrag (narratio) zurückgehenden Argumente geht der Autor aber sehr wohl ein.

Neue Sachverhalte, die Grundsätzlichkeiten der Kirchenverwaltung betreffen, werden immer wieder en passant eingestreut. Damit kann der Eindruck erweckt werden, dass der betreffende Sachverhalt überhaupt nur für den aktuell besprochenen Aspekt der Behinderung (Resignation wegen Alter, Leprosität o.ä.) zu beobachten wäre.

Bei der Behandlung des Wunsches, den Orden zu wechseln, geht der Autor auf die Amoenitates der Benediktiner ein, überspringt aber ein Schlagwort, das er zuvor intensiv gebraucht hat: die stabilitas loci (216). Auch heutzutage fällt es manchen Alten zunehmend schwer zu reisen, umso mehr in der Vormoderne. Dominikaner wurden durch die Lande geschickt, die Benediktiner nicht. Das mag für einen alten Dominikaner schon als Grund gereicht haben, die Erlaubnis für einen Transitus zu erbitten.

Bei Personen werden manchmal Amts-, manchmal Lebensdaten angegeben. Bei Personen, die mehrfach erwähnt werden, werden mitunter unterschiedliche Lebensdaten angegeben.

Personen, insbesondere Päpste, werden manchmal in anachronistische zeitliche Zusammenhänge gesetzt (bspw. 109). Eine hohe Dichte von Inkonzinnitäten ist festzustellen (bspw. 157, 161, 164, 197, ...). Leser sind gut beraten, mindestens für sie relevante Stellen in der lateinischen Fassung gegenzulesen, und sich nicht nur mit der englischen Übersetzung zu begnügen. Eine Vielzahl von falschen Übersetzungen verwundert (wenn etwa Fiat als "Done" übersetzt wird) und erreicht mitunter den Punkt, an dem die Quelle nicht mehr als Beleg für die Behauptung des Autors dienen kann. Da wird beispielsweise aus der - mit einer Non-Obstanz begleiteten - Tatsache, dass ein Geistlicher in Brügge bereits ein Kanonikat innehat, eine Einschränkung ob der Behinderung des Geistlichen. Clemens VI. mache dann ein präzises 'Gegenangebot' gegenüber dem Wunsch des Bittstellers, nämlich die Propstei der Liebfrauenkirche zu Brügge. Tatsächlich jedoch soll dem Bittsteller eine Stelle zugeteilt werden, die der Kollation des Propstes obliegt (144). In einem anderen Fall wolle Ritter Konrad, der das Klarissen-Kloster Clarenberghe (heutiges Dortmund?) gestiftet hatte, dort im Habit der Franziskaner seinen Alterssitz einrichten. Dorthin wolle er mit sechs Brüdern gehen, die aber nicht zum Essen und nicht über Nacht bleiben dürften. Tatsächlich aber suppliziert er lediglich um Zugang in die Klausur, womöglich, weil er dort Verwandtschaft hatte. Das Verbot, über Nacht zu bleiben und zu essen, erstreckte sich auch auf ihn (267). Darüber hinaus ließe sich ein langer Leporello mit falschen Übersetzungen vorlegen. Allgemein sei noch angemerkt, dass Ortsnamen nach wechselndem Usus übersetzt werden oder auch nicht, was manchmal auch zu falschen Zuordnungen führt.

Punktuell erschwert der Eindruck eines moralischen Impetus des Autors die Lektüre. Angesichts der Vielzahl an grundsätzlich mediävistischen Vorbehalten ist nur schwer einzuschätzen, wie viel für die Behinderungsstudien insgesamt gewonnen ist, wenn Quellen nicht das belegen, was sie belegen sollen. Angesichts der Latinität, mit der sich hier die Kanzlei des Papstes häufiger präsentiert, möchte man schon fast maliziös fragen, ob die Belange von Behinderten immer den Auszubildenden zur Mundierung vorgelegt wurden.

Es ist verdienstvoll, dass nun ein Teil der mittelalterlichen Bevölkerung mit Blick auf die Nutzung kirchlich-kurialer Strukturen stärker in den Blick gerückt ist. Gerade angesichts vormoderner medizinischer Versorgung ist ja nur zu erwarten, dass auch Geistliche hin und wieder von Krankheit oder Unfall betroffen waren, und sich dies zwangsläufig auf ihre Befähigung zur Amtsführung auswirken musste.


Anmerkung:

[1] Kerstin Hitzbleck: Senilitate confractus. Zum Umgang mit alten Klerikern im 14. Jahrhundert, in: Die Pein der Weisen. Alter(n) in romanischem Mittelalter und Renaissance (Mittelalter und Renaissance in der Romania, 5), hgg. von Christoph O. Mayer / Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah, München 2012, 197-214.

Andreas Kistner