Jakob Schönhagen: Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik 1945-1975 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. XXXVII), Göttingen: Wallstein 2023, 432 S., 2 Farb-, 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5369-5, EUR 46,00
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In seiner Dissertation untersucht Jakob Schönhagen die Etablierung, Verstetigung und Expansion der internationalen Flüchtlingspolitik zwischen 1945 und 1975 mittels einer "Kulturgeschichte des Politischen" (18). Er zeigt, wie zeitgenössische Wahrnehmungsmuster das Verhalten entscheidender Akteure und die institutionelle Ausgestaltung dieses Politikfelds prägten. Das Ziel des Autors ist es, die kontemporäre internationale Flüchtlingspolitik mittels der Analyse eines äußerst diversen Quellenkorpus zu historisieren.
Schönhagen geht chronologisch vor, beginnend mit einer Vorgeschichte, die im 19. Jahrhundert ansetzt (I). In jedem der drei Hauptkapitel (II-IV) untersucht er zentrale Wandlungsprozesse, die er um 1950, 1960 und 1970 verortet. Daraus leitet er eine alternative Periodisierung im Vergleich zu den klassischen Zäsuren 1945 und 1989 ab. Aufgrund der relativen Stabilität der internationalen Flüchtlingspolitik seit Mitte der 1970er Jahre fasst er deren weitere Entwicklung im bis in die 2020er reichenden Ausblick zusammen. Jedes Kapitel beginnt mit einer Kurzbiographie von jeweils drei Personen, die stellvertretend für individuelle Fluchterfahrungen stehen. Dieses Vorgehen sorgt für eine Personalisierung von Flucht und verhindert so, dass Flüchtlinge angesichts des Fokus auf andere Akteure lediglich als anonyme Zahlen gelesen werden.
Um der polyzentrischen Natur der internationalen Flüchtlingspolitik gerecht zu werden, untersucht Schönhagen mit den Fluchtbewegungen aus Palästina, Korea, Ungarn, Algerien und Ostpakistan eine überregionale Auswahl an Beispielen. Zusätzlich blickt er auf die Regierungen westlicher und blockfreier Staaten, jedoch nur am Rande die Position der Sowjetunion, welche eine "eigentümliche Schattenrolle" (350) einnahm. Hinzu kommen internationale Regierungsorganisationen, nichtstaatliche Organisationen sowie internationale Expertennetzwerke. Diese Multiperspektivität hebt Schönhagens Buch von der bisherigen Forschung ab, die sich auf einzelne Akteursgruppen beschränkte.
Den Ausgangspunkt für Kapitel II bildet die unmittelbare Nachkriegszeit, als die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen Flüchtlinge als eine durch den Krieg hervorgerufene "Anomalie" (96) ansahen. Nachdem das Phänomen jedoch trotz der Aufwendung umfassender Ressourcen Bestand hatte, wurde in den USA eine "Re-Nationalisierung" (71) der Flüchtlingspolitik gefordert. Durch den US-amerikanischen Einfluss - Schönhagen spricht bei den Nachkriegsjahren vom "amerikanischen Jahrzehnt" (115) - entstand der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) "als Sparmaßnahme" (81) und sollte lediglich den Displaced Persons in Europa Rechtsbeistand leisten. Durch die Begrenzung des Flüchtlingsstatus auf Personen, die vor 1951 geflohen waren, sieht Schönhagen die Verhandlungen zur internationalen Flüchtlingskonvention als "rechtliche Vergangenheitsbewältigung" (91) der Kriegsfolgen. Entscheidende Akteure in der internationalen Flüchtlingspolitik blieben Staaten, die ad hoc auf einzelne Krisen reagierten und dabei ihre jeweiligen Interessen verfolgten. Zu nennen seien hier die US-amerikanischen Hilfsprogramme für Flüchtlinge aus kommunistischen Staaten, die eine Übertragung "der Containment-Strategie auf die Flüchtlingspolitik" (126) darstellten. Aus der schwachen Position der Vereinten Nationen in der internationalen Flüchtlingshilfe schlussfolgert der Autor, dass sie in den 1950ern ein "Feld ohne Zentrum und Zukunft" (149) darstellte.
Im folgenden Kapitel geht Schönhagen auf die Überschreitung der zeitlichen und räumlichen Begrenzungen der internationalen Flüchtlingspolitik ein. Entscheidend hierfür war, dass Flüchtlinge zeitgenössisch nicht mehr als Folge des Zweiten Weltkriegs, sondern als eine permanente und globale Thematik wahrgenommen wurden. Damit einher ging eine "Entpolitisierung und Entkonkretisierung der Sprache über Flüchtlinge" (197) durch westliche Staaten. Nicht mehr die Fluchtursachen - zu denen auch die Entkolonialisierungskriege zum Beispiel in Algerien gehörten, sondern das Leid der Flüchtlinge stand im Vordergrund. Der UNHCR regierte auf den veränderten Diskurs mit einem Fokus auf humanitäre statt auf rechtliche Aspekte und legitimierte so gleichzeitig seine globale Tätigkeit. Im Protocol Relating to the Status of Refugees von 1967, auch bekannt als New York Protocol, manifestierte sich diese Entwicklung. Schönhagen beschreibt dieses Abkommen, das die zeitlichen und räumlichen Begrenzungen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 abschaffte, als ein "Dokument des Nachgebens" (221) gegenüber den Staaten Afrikas und Asiens, die durch eigene Konventionen drohten, die Autorität des UNHCR zu untergraben. Da aber weiterhin Aufnahmestaaten über die Vergabe von Asyl entschieden, blieb es bei einer "Universalisierung mit Lücken" (228).
Kapitel IV zeigt, wie sich der UNHCR "als wichtigste Organisation und zentrale Clearingstelle der Flüchtlingshilfe" (337) etablieren konnte. Dies gelang durch seine dediziert "humanitäre" (277) Strategie und Emanzipation von der Logik des Ost-West-Konflikts im Umgang mit der Fluchtbewegung aus Ostpakistan 1971. Da dadurch sein politischer Nutzen für die westlichen Staaten im Kontext dieser Auseinandersetzung vermindert wurde, waren diese weniger bereit ihn finanziell zu unterstützen. Der UNHCR setzte daher für die Finanzierung seiner Hilfsprojekte auf zivilgesellschaftliches Engagement: Anfang der 1970er Jahre erreichte durch intensivierte Öffentlichkeitsarbeit etwa der "Pop-Humanitarismus [...] ein ganz neues Ausmaß" (295).
Schönhagen arbeitet heraus, dass diese Entwicklung der internationalen Flüchtlingspolitik keineswegs einer geraden Linie folgte, sondern eine "Geschichte dauernder Aufbrüche, vereinzelter Durchbrüche und wiederholter Rückschläge" (22) war. Beeinflusst wurde sie sowohl durch den Ost-West-Konflikt als auch den globalen Dekolonisierungsprozess und verfügt daher trotz der zentralen Rolle der USA über "keine rein westliche Geschichte" (365). Die Wahrnehmung von Flüchtlingen sieht Schönhagen als interessen- und handlungsleitend für die entscheidenden Akteure an. Aus dieser Abhängigkeit leitet Schönhagen eine hohe Wandelbarkeit der internationalen Flüchtlingspolitik ab, die auch heute noch gelte (370).
Wie der Autor selbst herausstellt, ist Interdisziplinarität ein zentraler Aspekt der Flüchtlingsforschung. Insofern wäre eine Auseinandersetzung mit den Theorien und dem Forschungsstand anderer Fächer wie der Politikwissenschaften eine wertvolle Ergänzung für sein Werk gewesen. Auch wenn die Hauptperspektive die westlicher Staaten bleibt, lädt Schönhagens Werk durch seine Quellenauswahl, außereuropäische Fallbeispiele und die Behandlung unterschiedlichster Akteure dazu ein, die Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik von diesem Fokus losgelöst zu betrachten. Gleichzeitig zeigt er das Potenzial der Kulturgeschichte des Politischen für die künftige Erforschung der internationalen Politik auf.
Eike Klages