Rezension über:

Sabine Pitteloud: Les multinationales suisses dans l'arène politique (1942-1993) (= Publications d'Histoire économique et sociale internationale; No. 47), Genève: Droz 2022, 421 S., ISBN 978-2-600-06328-9, EUR 39,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Nicolas Arendt
Université du Luxembourg
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Nicolas Arendt: Rezension von: Sabine Pitteloud: Les multinationales suisses dans l'arène politique (1942-1993), Genève: Droz 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 2 [15.02.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/02/38340.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sabine Pitteloud: Les multinationales suisses dans l'arène politique (1942-1993)

Textgröße: A A A

Das vorliegende Buch von Sabine Pitteloud, das aus ihrer Dissertation hervorgegangen ist, analysiert die politischen, wirtschaftlichen sowie sozialen Verflechtungen und Kontroversen im Zusammenhang mit der Internationalisierung schweizerischer multinationaler Unternehmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Autorin argumentiert, dass multinational agierende Unternehmen wie etwa Novartis, Nestlé oder Roche in diesem Zeitraum eine entscheidende Rolle in den politischen Auseinandersetzungen in der Schweiz gespielt haben. Indem Pitteloud die traditionelle Sichtweise von Großunternehmen als "black boxes" (16) überwindet, deren Einfluss lediglich aus den bestehenden makroökonomischen Strukturen abgeleitet wird, gelingt es ihr, die Interdependenzen der multinationalen Unternehmen mit anderen Interessengruppen aufzuzeigen und die Unternehmen selbst als politische Akteure darzustellen. Die Schweiz eignet sich für diese Untersuchung besonders gut, da sie einerseits durch ein ausgeprägtes wirtschaftsliberales System gekennzeichnet ist, in dem multinationale Unternehmen das Fundament der Wirtschaft bilden, und sich andererseits gleichzeitig seit den 1970er Jahren durch eine Form des "demokratischen Korporatismus"[1] auszeichnet.

In der Einleitung gibt Pitteloud einen fundierten Überblick über den aktuellen Forschungsstand und stellt die Aktivitäten internationaler Unternehmen in einen breiteren Kontext, indem sie ihre Forschung an der Schnittstelle von Unternehmensgeschichte, Politikgeschichte und der Geschichte des Kapitalismus verortet. Das Buch besteht aus zehn eigenständigen Kapiteln, die sowohl chronologisch als auch thematisch in einen Mikro-, Meso-, und Makroteil gegliedert sind. Im Mikroteil über die politische Mobilisierung der multinationalen Unternehmen seit 1942 analysiert Pitteloud in zwei Kapiteln die Entstehungsgeschichte der sogenannten Industrie-Holding, des Schweizerischen Wirtschaftsverbandes der Industrie- und Dienstleistungsunternehmen (heute SwissHoldings). Das erste Kapitel zeigt, dass insbesondere die politischen Risiken im Kontext des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Unternehmen dazu veranlassten, sich zu einer nationalen Interessenvertretung zusammenzuschließen. Im zweiten Kapitel wird unter anderem die strategische Ausrichtung der Industrie-Holding in den Blick genommen, wobei die Unternehmen durch gezieltes Lobbying bei Schlüsselakteuren der Bundesverwaltung ein Machtgleichgewicht mit dem übergeordneten Schweizerischen Handels- und Industrieverein (SHIV), dem sogenannten "Vorort", anstrebten.

Der Mesoteil des Werkes untersucht in vier Kapiteln die Rezeption und Antwort verschiedener Akteure - darunter politische Behörden, Gewerkschaften und die öffentliche Meinung - auf die Aktivitäten und die Internationalisierung der Großunternehmen während der "Trente Glorieuses". Im dritten Kapitel zeigt Pitteloud, dass in dieser Zeit ein gesellschaftlicher Konsens herrschte, der auch von den Gewerkschaften mitgetragen wurde und darauf abzielte, Produktionsverlagerungen ins Ausland zu fördern, um eine verstärkte Zuwanderung von Arbeitskräften in die Schweiz zu verhindern und gleichzeitig das wirtschaftliche Potenzial des Landes zu nutzen. Ein weiterer Abschnitt beleuchtet die Reaktionen auf die Ankunft amerikanischer Firmen in der Schweiz in den 1960er Jahren. Es stellt sich heraus, dass die zunehmende Politisierung der internationalen Unternehmen zu einer ambivalenten Haltung der politischen Behörden, der Gewerkschaften und auch der Schweizer Arbeitgeber gegenüber einströmenden ausländischen Direktinvestitionen führte. In den letzten beiden Kapiteln wird das Thema der Risikoabsicherung von Auslandsinvestitionen und der bilateralen Beziehungen zu Italien vertieft, wobei unter anderem die Verflechtung der multinationalen Unternehmen mit der Schweizer Diplomatie hervorgehoben wird.

Der abschließende Makroteil des Buches analysiert die Funktionsweise des schweizerischen Kapitalismus im Kontext der verstärkten Infragestellung der wirtschaftsliberalen Ordnung seit den 1970er Jahren. Im siebten Kapitel beleuchtet Pitteloud die Abwehrstrategien des "Vororts" und der Industrie-Holding zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Nachkriegsmodells gegenüber der Gewerkschaftsbewegung. Das achte Kapitel beschreibt die Bemühungen der Schweizer Unternehmen, globale Regeln und die Einführung von Verhaltenskodizes durch internationale Organisationen zu verhindern. Anschließend wird die Firestone-Affäre behandelt, eine Standortverlagerung des amerikanischen Reifenherstellers, die 1978 im Kanton Basel-Landschaft zum Abbau von 620 Arbeitsplätzen und zu einer landesweiten Aufregung und Mobilisierung führte und eine direkte Intervention der Bundesbehörden in Form eines Rettungsplans auslöste. Die Autorin argumentiert anhand dieses Falles, dass staatlicher Interventionismus vor allem dann durchgesetzt wurde, wenn das Thema im öffentlichen Diskurs präsent war. Das letzte Kapitel widmet sich der politischen Agenda der multinationalen Unternehmen an der Wende zum 21. Jahrhundert und untersucht wiederum eine Gegenoffensive der Arbeitgeber in den 1980er Jahren, die unter dem Schlagwort der "Revitalisierung des Standorts Schweiz" (353) das korporatistische Modell der 1970er Jahre ablehnten und günstigere Rahmenbedingungen für Unternehmen forderten.

Das Buch zeichnet sich durch einen breiten Quellenkorpus aus, der aus den Archiven bedeutender Unternehmen, den Beständen des Schweizerischer Handels- und Industrievereins sowie aus Archiven von Gewerkschaften und politischen Behörden schöpft. Diese breite Datenbasis ermöglicht eine facettenreiche Analyse, und die zahlreichen Quellenzitate im Text bereichern den Lesefluss. Pitteloud legt Wert darauf, die Perspektiven verschiedener Schlüsselakteure abzudecken, wobei quellenbedingt vor allem die Sicht der Arbeitgeber, insbesondere der Industrie-Holding, im Vordergrund steht, während Gewerkschaften und die öffentliche Meinung meist weniger präsent sind. Hilfreich sind die klare Gliederung der einzelnen Kapitel und die abschließenden kurzen Zusammenfassungen zwischen den Hauptteilen. Allerdings mangelt es dem Buch gelegentlich an einer durchgehenden Argumentationslinie und an einer stärkeren Verknüpfung der einzelnen Kapitel. So wirkt beispielsweise das Kapitel über die Firestone-Affäre thematisch etwas isoliert zwischen den Beiträgen über den Umgang mit internationaler Regulierung und den jüngsten Veränderungen in den unternehmenspolitischen Agenden.

Pitteloud nähert sich ihren Forschungsfragen, indem sie die politische Rolle multinationaler Unternehmen anerkennt und verschiedene Aspekte ihres Verhaltens im schweizerischen Kapitalismus herausarbeitet. Dies ermöglicht die Erforschung bisher vernachlässigter Bereiche der Unternehmensgeschichte und bildet eine Grundlage für zukünftige Arbeiten über die wechselseitige Beeinflussung von Unternehmen sowie anderen Akteuren. Das Buch stellt auf innovative Weise die Dynamik zwischen Wirtschaft und Politik im schweizerischen Kontext dar und regt dazu an, die Unternehmensgeschichte des 20. Jahrhunderts verstärkt als Politikgeschichte zu verstehen.


Anmerkung:

[1] Vgl. Peter J. Katzenstein: Corporatism and Change. Austria, Switzerland and the Politics of Industry, Ithaca 1984.

Nicolas Arendt