Sebastian Wenger: Gewalterfahrungen. von hörenden und gehörlosen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Paulinenpflege Winnenden von 1945 bis 1983, München: Life InSight Verlag 2022, 243 S.
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Gewalt war in westdeutschen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Fürsorgeerziehung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ein umfassendes Phänomen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Vielzahl von Studien, die seit Beginn der wissenschaftlichen Aufarbeitung in den späten 2000er Jahren veröffentlicht wurden. Die Untersuchung von Sebastian Wenger zur Paulinenpflege Winnenden schließt sich an mehrere Aspekte dieser Studien an. Typisch ist zum Beispiel der Fokus auf die Perspektive der Betroffenen und die Rahmenbedingungen der Institution. Ebenso wurde das Konzept der "totalen Institution" von Erving Goffmann nicht nur in diesem Werk, sondern bereits in zahlreichen weiteren Aufarbeitungsstudien genutzt.
Gleichzeitig beschreitet Sebastian Wenger mit der Studie auch eigene Wege. Weniger konventionell sind unter anderem der Aufbau und Teile der genutzten Methoden. Wenger stützt sich überwiegend auf die Akten der Betroffenen aus den drei Bereichen der Paulinenpflege: dem Jugendhilfeverbund mit "Hilfsschule", der Berufsschule für gehörlose Jugendliche und dem sogenannten Taubstummenasyl, in dem ältere gehörlose Menschen stationär verwahrt wurden. Diese Quellengrundlage findet sich auch im Vorgehen wieder, das für alle drei Bereiche ähnlich ist. Zunächst werden die Geschichte des jeweiligen Bereichs und dessen Entwicklung skizziert. Hierbei hebt der Autor Aspekte wie die Raumnot, den Personalmangel sowie den Alltag hervor. Daraufhin werden die Leitbilder der Erziehung beziehungsweise Ausbildung und die damit zusammenhängenden Fremdbilder dargestellt, die das Personal von der jeweiligen Betroffenengruppe hatte.
Anschließend folgt eine der großen Stärken des Buches: Wenger analysiert quantitativ im Hinblick auf dokumentierte Gewaltfälle sämtliche Akten von Betroffenen, die im Untersuchungszeitraum in der Einrichtung waren. Dies ermöglicht einen Überblick über Opfer- und Tätergruppen und den Wandel über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Eben jenes Vorgehen ist eher unüblich für Studien dieser Art, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass in den wenigsten Einrichtungen solche Akten in ausreichender Dichte überliefert sind, so dass viele Studien vermehrt auf Oral History-Interviews mit Betroffenen und ehemaligen Mitarbeitenden zurückgreifen müssen. Interviews hat Wenger ebenfalls geführt, jedoch ist deren Anzahl überschaubar. Während sich vier der Interviews auf den Jugendhilfeverbund beziehen, ist lediglich ein Interview mit einem ehemaligen gehörlosen Auszubildenden vorhanden. Dieses Ungleichgewicht in Bezug auf die Perspektiven gehörloser Auszubildender weiß Wenger aber durch eine genaue Analyse der Akten auszugleichen.
Außerdem gelingt es in der anschließenden qualitativen Analyse, das Handeln der Mitarbeitenden sowie deren Rechtfertigungsstrategien auf Grundlage der zuvor dargestellten Fremd- und Leitbilder überzeugend zu kontextualisieren. Beispielsweise zeigt der Autor die Folgen der lautsprachlichen Erziehung gehörloser Menschen und die daraus resultierenden Kommunikationsprobleme zwischen den gehörlosen Auszubildenden und den hörenden Mitarbeitenden an vielen Stellen auf. Zudem überzeugen die Darstellungen in den beiden Unterkapiteln zum Netzwerk der Paulinenpflege. Wenger schafft es hier, die Mechanismen offenzulegen, durch die Täterinnen und Täter über Jahrzehnte hinweg durch die Einrichtung selbst und durch staatliche Kontrollinstanzen geschützt wurden.
Ebenfalls erscheint die relativ spät angesetzte Zäsur von 1983 einleuchtend und birgt Erkenntnispotenziale. Denn die meisten Aufarbeitungsstudien zu Einrichtungen der Behindertenhilfe fokussieren die 1950er und 1960er Jahre, das vorliegende Buch deckt darüber hinaus die 1970er und frühen 1980er Jahre ab. Wenger begründet die Zäsur mit den vergleichsweise langen personellen Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus, die für ihn ein Charakteristikum der Einrichtung waren. Lediglich mancher Wandel, der sich in den 1970er Jahren zeigt, wird nicht konsequent benannt. Zum Beispiel kam es zu einer Beschwerde über die Missstände in der Einrichtung und die "massiven körperlichen Züchtigungen" (110) durch das Personal von einer Sozialpädagogikstudentin beim Landesjugendamt, nachdem diese ein Praktikum im Kinderheim des Jugendhilfeverbunds gemacht hatte. Diese neue Gruppe junger, akademisch ausgebildeter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die vorherrschenden Erziehungsmethoden in Frage stellten, waren ein Charakteristikum für diese Phase und den beginnenden Wandel in den Einrichtungen. Da sich Wenger stärker auf die Kontinuitäten in der Einrichtung fokussierte, blieben jene Merkmale des Wandels unerwähnt.
Trotz einiger Kritikpunkte ist die Studie von Sebastian Wenger überaus lesenswert und erkenntnisreich. Das gilt vor allem für all jene, die sich mit der Geschichte der Fürsorgeerziehung oder dem eher jungen Forschungsbereich der Deaf History beschäftigen. Gerade für den letzteren Bereich hat das Buch einen Mehrwert, bietet es doch viele neue Erkenntnisse zur Lebenswelt gehörloser Menschen in Westdeutschland nach 1945.
Erik Kömpe